Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
abzuhalten. Ich flehte sie an, bei mir zu bleiben oder mit mir zu fliehen. Wir sollten diesen verfluchten Baum seinem Schicksal überlassen, sagte ich, sollten fortziehen aus Benevent … Aber sie wollte nicht hören. Sie wirkte so entschlossen, so schön, so heldenmütig in ihrer Gelassenheit. Ich spürte, dass ich ohne sie nicht würde leben können, und das sagte ich ihr auch.
Aber sie ließ sich nicht umstimmen. »Die Zukunft der Welt hängt von diesem Baum ab«, sagte sie. »Es ist meine Bestimmung, ihn zu beschützen. Deswegen kann ich nicht mehr länger bei dir bleiben. Doch eines Tages werden wir uns wiedersehen. Darauf kannst du dich verlassen.« Mit einer Hand berührte sie meine Stirn und übertrug mir etwas: die Kräfte, über die ich heute noch verfüge. Dann ging sie davon, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.
Der Baum wurde gefällt, aber zu Hexenprozessen kam es in Benevent danach nicht. Denn die jungen Frauen, die den Nussbaum verehrt hatten, waren plötzlich spurlos verschwunden, und auch von Matilde habe ich nie wieder etwas gehört.
Ein Jahr später ereilte mich die Krankheit, und ich begrüßte sie wie ein Geschenk. Denn ohne meine Tochter konnte ich wirklich nicht leben. Ich hoffte auf den Tod, doch als die Finsternis mich dann umfing, stellte ich fest, dass ich doch noch in gewisser Weise auf der Welt war. Ich erinnerte mich nur an wenig, aber das Versprechen, das mir Matilde gegeben hatte, war mir noch im Sinn. Ich würde erst dann Frieden finden, wenn ich sie wiedergesehen hätte. Und so lebte mein Geist weiter, schweifte jahrhundertelang ruhelos durch die Stadt. Hin und wieder sah mich jemand und erzählte dann von einer kleinen alten Frau mit Holzschuhen an den Füßen, die nachts in der Nähe des Amphitheaters herumspuke.
Hingerissen hatten Sofia und Lidja der alten Frau zugehört, während sie über die Baumkronen flogen, die mittlerweile ganz mit blutrotem Schnee überzogen waren.
»Über die Jahrhunderte war mir nur im Gedächtnis geblieben, dass ich auf jemanden wartete«, erzählte sie weiter, »mit der Zeit vergaß ich sogar den Namen meiner Tochter, aber nicht die Liebe zu ihr, die ich im Herzen trage. Aber jetzt sind meine Erinnerungen zurückgekehrt. Ich weiß wieder, was sie an dem Morgen zu mir sagte, nachdem ich sie bei der Zeremonie vor dem Baum beobachtet hatte. Meine Tochter war eine der zahllosen Inkarnationen Idhunns, die in den Jahrtausenden aufeinander gefolgt sind und die Aufgabe weitergetragen haben, den Nussbaum zu verteidigen und zu beschützen. Ich weiß jetzt wieder von den Kräften, die sie mir übertrug, als sie an dem Abend, bevor sie ging, meine Stirn berührte. Und ich weiß auch alles über die Frucht, über Nidhoggr und den Weltenbaum. Vor allen Dingen aber weiß ich wieder, dass es ihr Wille war, dass ich all die Jahrhunderte auf der Erde bleibe, damit ich ihr und auch euch helfe.«
Ein langes Schweigen folgte ihren Worten. Sofia dachte darüber nach, wie stark dieses Gefühl der Mutterliebe sein musste, wenn es dazu in der Lage war, eine Mutter über tausend Jahre an die Erde zu binden.
›Das Schicksal will es, dass ich solch ein Gefühl niemals erleben werde‹, dachte sie, und dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Doch dann fiel ihr der Professor ein, die fürsorglichen Worte und Gesten, mit denen er sie noch vor ein paar Stunden, als sie zu ihrer Mission aufgebrochen war, verabschiedet hatte. ›Dafür habe ich ihn‹, dachte sie und spürte dabei, wie eine große Wärme sie überkam.
»So, da wären wir«, verkündete die alte Frau irgendwann.
Lidja und Sofia schwebten nieder und konnten nun den Nussbaum erkennen sowie die winzige Freifläche vor ihm. Gleich beim Baum standen Ratatoskr und Fabio. Und plötzlich schoss ein schwarzer Pfeil mit irrer Geschwindigkeit auf sie zu.
19
Eltanins Entscheidung
Fabio war sich sicher, gleich sterben zu müssen. Der Atem stockte ihm, Arme und Beine wurden starr und schwer wie Marmor. Kurz sah er noch etwas, dann wurde alles schwarz. In der Finsternis nahm nach und nach der Kopf einer riesigen Schlange Gestalt an, das Maul mit scharfen Reißzähnen besetzt und zu einer brutalen Grimasse aufgerissen, die Augen rot und der Blick böse. Jetzt bist du mein, jubilierte Nidhoggr in seinem Geist.
Der Junge schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, waren sie rot und hatten, so wie sein ganzes Gesicht, jeden Ausdruck verloren. Er drehte sich um und kniete sich so vor Ratatoskr
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