Drachenseele (German Edition)
ihrem Bruder in einem sehr gepflegten Garten zu sehen. Beim Betrachten überlegte Marcus zum tausendsten Male, wie seine Eltern ausgesehen haben mochten, warum sie ihn irgendwo ausgesetzt hatten und ob sie sich wünschten, ihn wieder zu sehen. Clara, seine geliebte Heimerzieherin, konnte keine Hinweise auf seine He r kunft geben. Wie bei vielen anderen Menschen, endete auch seine Suche nach den Wurzeln im Nichts.
„Das Foto ist vorletztes Jahr bei meinen Eltern aufgenommen worden. Neben mir sitzt Sven, mein Bruder.“
„Dachte ich mir.“
„Komm, setzt dich. Ich hole nur das Essen.“ Sie eilte zur Küche hinaus. Marcus nahm auf einem der vier Stühle Platz. Der Esstisch erinnerte ihn an einen Dekorationstisch im Kaufhaus. Die beigefarbenen Platzdeckchen, Servietten und Kerzen bild e ten einen schönen Kontrast zu dem dunklen Holztisch. Die Kristallgläser glitzerten in der tiefstehenden Aben d sonne, die durchs Fenster schien. Nicole kehrte mit zwei Gla s schüsseln zurück. Sie stellte zuerst den Salat, dann das Gulasch auf den Tisch. „Magst du Rotwein?“
Nicole konnte ausgezeichnet kochen. Das Essen schmeckte scharf, wie der Name ‚Drachengulasch’ verriet. Der Rotwein, das knusprige Baguette mit dem frischen Salat dazu waren perfekt aufeinander abgestimmt. Während des Essens erfuhr Marcus mehr über seine attraktive Nachbarin. Nicole studierte V e terinärmedizin und träumte von einer eigenen Praxis. Ihr zwei Jahre älterer Bruder absolvierte bei der Bundeswehr eine Pil o tenausbildung. Die Eltern lebten in Lüneburg und unterstützen ihre Tochter finanziell. Mit der Straßenbahn waren es von hier aus zwanzig Minuten zur Universität, für Nicole bestmögliche Bedingungen zum Studium. „Jetzt habe ich aber genug über mich erzählt.“
Marcus schaute in ihr hübsches Gesicht. Aus dieser sympathischen Nachbarschaft durfte nicht mehr werden. Seine negativen Kindheitserfahrungen drängten sich in den Vordergrund. Allein das Wort Heimkind schien bei den meisten Eltern einen bitt e ren Beigeschmack zu hinterlassen. Zahlreiche Freundschaften, so weit sie überhaupt entstehen konnten, wurden auf Drängen der Eltern abgebrochen mit der Begründung, dass Marcus e i nen schlechten Einfluss auf die Kinder hätte. Diese Verga n genheit holte ihn heute vermutlich auf die gleiche Weise ein.
„Erzähl, bist du hier in Berlin aufgewachsen?“
Marcus schüttelte den Kopf. Er musste überlegt antworten. „Nein, in der Nähe von Stralsund. Vor drei Jahren zog ich in eine WG in Prenzlauer Berg.“
„Eine Wohngemeinschaft? Das klingt nach einer interessanten Erfahrung!“ Sie hatte definitiv keine Ahnung. „Sag mal, du hast doch bestimmt mitbekommen, wer meine Wohnung renoviert hat.“
„Na klar! Die Firma Heider. Bist du nicht zufrieden?“
„Firma Heider? Doch.“ Eine Firma konnte er sich nicht leisten. Verdammt, wer steckte dahinter? Marcus kam eine Idee. Seine Eltern hatten ihn ausfindig gemacht und wollten ihn überraschen.
„Ich habe mir eine Visitenkarte geben lassen. Die haben sehr sauber und schnell gearbeitet. So was kann man immer mal gebrauchen.“
„Kann ich sie mal sehen?“ Wie genial. Er brauchte nur Firma Heider anzurufen und nach dem Auftraggeber zu fragen, schon hätte er das Geheimnis gelüftet.
„Sag bloß, du kennst den Betrieb nicht?“
„Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wer den Umzug und vor allem die Renovierung veranlasst hat.“
„Du musst ja tolle Freunde haben. Für mich würde niemand eine solche Aktion starten.“
„Kannst du mir die Telefonnummer abschreiben?“
Nicole stand augenblicklich auf, nahm Stift und Papier zur Hand, um Marcus die Nummer abzuschreiben. „Ich bin davon ausgegangen, dass du das alles selbst veranlasst hast, damit die Wohnung fertig ist, wenn du aus dem Krankenhaus kommst.“
„Danke. Ich sollte jetzt gehen.“
„Wirklich?“ Ihre Stimme klang zittrig.
„Du bist eine großartige Köchin.“ Er musste lächeln. „Ich würde mich gern ein wenig aufs Ohr hauen. Richtig fit bin ich eben noch nicht.“ Er spürte, dass es genauso war.
„Entschuldige, bitte. Du bist heute Mittag erst entlassen worden und ich habe nichts Besseres zu tun, als dich in Beschlag zu nehmen.“
„Schon in Ordnung. Das war eine super Ablenkung. Danke.“ Er steckte den Zettel mit der Telefonnummer in seine Hosentasche und stand auf.
„Kann ich noch etwas für dich tun? Ich würde dir sehr gern helfen, ehrlich.“
Sie entwickelte sich
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