Drachenseele (German Edition)
war. So schnell, wie es nur ging, musste sie hier weg. Marcus schaute sich um. In diesem Raum gab es zwei bodentiefe Fenster, vermutlich ehemalige Terrassentüren, die mit Latten zugenagelt waren. Mit drei gezielten Fußtritten trat Marcus sie ein. Er bog die Nägel samt Bretter zur Seite und schaffte damit Platz genug, um bequem nach draußen zu gelangen. Das Abendlicht durchflutete sogleich den Raum, offenba r te vergilbte großblumige Tapetenreste.
„Komm jetzt!“ Marcus winkte Nicole zu sich, die noch immer blinzelnd, auf ihn zu kam. Sie in Sicherheit zu wissen, war für Marcus in diesem Moment das Wichtigste. Er schob sie als erstes durch die Öffnung.
„Du Idiot! Was tust du da?“
Marcus fuhr herum. Im Türrahmen zum Flur stand Albert. Er warf in diesem Augenblick ein Messer in Richtung Terrassentür, wo Nicole gerade nach draußen flüchtete. Marcus sah nur noch eine Möglichkeit, Nicole zu schützen, er warf sich vor sie. „Lauf, Nicole!“
Ein heftiger Schmerz erschütterte seine linke Schulter. „Lauf um dein Leben!“ Jetzt musste er alles daran setzten, um sie zu beschützen. Albert durfte sie nicht zurück in seine Finger bekommen. Kleine Lichtfunken tanzten Marcus vor den Augen. Er kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel an und versuchte Nicole nach draußen zu folgen. Marcus stolperte, fiel dabei zu Boden. Beim Aufstehen donnerte ihm etwas an den Kopf, genau auf seine alte Verletzung. Ihm wurde schwarz vor Augen. In diesem Moment spürte Marcus, wie Narvalvar sich in den Vordergrund drängte.
„Nein“, stöhnte Marcus. Zu dieser Verwandlung durfte es nicht kommen. Nicht ausgerechnet jetzt.
Mit der Kraft seiner Hoffnung warf er sich zur Seite und trat Albert in den Genitalbereich. Dieser krümmte sich, doch nicht lange genug. Bevor Marcus aufstehen konnte, warf sich Albert auf ihn, er packte das Messer in Marcus Schulter, um daran, wie ein Wahnsinniger zu rütteln. Marcus hörte sich aufschreien, verlor dann sein Bewusstsein.
Der Instinkt zum Überleben rief Narvalvar auf den Plan. Nicht nur von seinen Beschwerden gereizt, auch durch die Wut seiner Hilflosigkeit, blies er Albert derart heftig entgegen, dass dieser durch die Wucht nach draußen in den Flur geschleudert wurde. Haare und Kleidung brannten lichterloh. Narvalvar rappelte sich auf. Dieser Mensch sollte niemanden mehr verletzen und einen Drachen schon gar nicht. Auf dem Flur setzte Na r valvar eine weitere Feuerfontäne nach, die Albert Richtung L u ke beförderte. Mit der restlichen Wut schnaubte Narvalvar A l bert in das Kellerloch, wo noch vor kurzem Nicole um ihr L e ben bangte. Durch die Heftigkeit seines Atems fiel die Luke hinter Albert zu.
Vorbei!
Narvalvar spürte vor Schmerz seinen linken Flügel nicht. Unmöglich konnte er so fliegen. Aber hier bleiben, konnte er auch nicht. Nicole informierte bestimmt die Polizei, die dann das ganze Haus auf den Kopf stellen würde. Er wäre entdeckt, als Drache, und sein Halsband müsste seinen Zweck erfüllen.
Stones! Er handelte im Sinne aller Drachen. Das war gut so, auch wenn damit sein Schicksal besiegelt war. Jetzt erkannte er die Notwendigkeit dieser Vorkehrung. Aber gab es nicht doch noch einen Ausweg für ihn? Verzweifelt flatterte er mit dem rechten Flügel. Doch nur Staub wirbelte durch die Luft. Sein Blick schweifte auf seine linke Schulter, aus der das Messer triumphierend herausragte. Blut lief über seinen schuppigen Panzer, wenn auch nicht viel. Mit seinem rechten Flügel sah er sich nicht in der Lage die Klinge zu entfernen. Nur in seiner menschlichen Gestalt, als Marcus, würde er in einem Krankenhaus Hilfe finden, doch für die Verwandlung brauchte er Kraft.
Kraft, die ihm hier gefangen mehr und mehr verloren ging. Er schleppte sich zum Ausgang, der für Nicole den Weg in die Freiheit ebnete. Sie war frei und hoffentlich in Sicherheit.
Zumindest war es ihm gelungen, das Wichtigste in seinem Leben zu retten. Vor ihm lag ein kleines verwildertes Grundstück, umsäumt mit zahlreichen Wohnungen, in denen viele Menschen lebten. Hier käme er niemals ungesehen davon, solange er nicht fliegen konnte. Narvalvar sah seinem Ende entgegen. Sobald jemand diese Ruine betreten würde, müsste er mit Hilfe der Kralle am Flügel das Halsband abreißen. Noch spürte er Hoffnung in sich, ein wenig Kraft zu sammeln, um sich zu verwandeln. Bisher hatte man Nicole in ihrem Versteck nicht entdeckt, auch Albert nicht, der sie möglicherweise regelmäßig aufgesucht hatte.
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