Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
gewesen war. Dazu war es ganz offensichtlich nicht gekommen.
Janica ließ sich auf die Knie fallen und spähte unter das Bett. Sie brauchte ganz dringend einen Nachttopf. Aber da war nichts, nicht einmal ein paar Staubflusen. Sie würde sich auf die Suche nach einer bestimmten Örtlichkeit machen müssen.
Bevor sie sich der Tür zuwandte, trat Janica an eines der beiden großen Fenster. Auch hier bemerkte sie, dass in diesem Haus, obwohl alles bescheiden wirkte, nicht gespart wurde. Die Fensterrahmen enthielten nicht die üblichen Butzenscheiben, sondern große klare Glasflächen. Janica hatte so etwas noch nie gesehen. Ehrfürchtig legte sie ihre Fingerspitzen an das vollständig durchsichtige Material und sah nach draußen. Der Anblick war atemberaubend.
Vor Janica weitete sich ein grünes Tal, ganz und gar von schroffen, schneebedeckten Bergen umgeben. Hier und da drängten sich kleine Wäldchen an die Felsen, verstreut auf den Wiesen standen einige recht stattliche Anwesen in respektvoller Entfernung zu dem Bergbach, der sich in Mäandern dem See entgegenschlängelte. Und welch ein See das war! Noch nie hatte Janica ein solch türkisfarbenes Gewässer gesehen!
Der Anblick von so viel Wasser erinnerte Janica wieder an ein gewisses Bedürfnis. Sie trennte sich von der idyllischen Aussicht und ging zur Tür. Für einen Moment lang zögerte sie, die Klinke herunterzudrücken. Was, wenn man sie schon wieder eingesperrt hatte?
Nein, die Tür war nicht abgeschlossen und schwang sofort auf. Janica trat hinaus auf einen breiten, makellos sauberen, aber entsetzlich kahl wirkenden Flur. Nur kleine Öllämpchen unterbrachen das eintönige Weiß der Wände. Die Türen verrieten nichts von dem, was hinter ihnen verborgen sein mochte. Schlief Kana-Tu in einem dieser Räume? Neugierig öffnete Janica die nächstbeste Tür. Sie mühte sich, besonders leise dabei zu sein. Das hätte sie sich sparen können! Der Raum war ebenso schmucklos wie leer, nur inmitten des Zimmers stand ein von einem Tuch abgedecktes Möbelstück. Mit spitzen Fingern lupfte Janica die Stoffbahn an und entdeckte ein allerliebstes Frisiertischchen. Der Spiegel war blind vor lauter Staub, die kleinen Schubfächer und die Tischplatte waren mit filigranen Intarsien verziert. Die Prinzessin konnte der Versuchung nicht widerstehen und wischte mit dem Tuch über das Glas. Erschrocken prallte sie vor ihrem eigenen Spiegelbild zurück. Sie sah ja grässlich aus! Sie musste baden, ihr Haar waschen und bürsten, sie musste …
Der Druck ihrer Blase verriet ihr, was sie zuallererst musste. Janica ließ die Stoffbahn wieder über das Schränkchen gleiten und lief zurück auf den Flur, der nach einigen Schritten zur Galerie wurde und den Eingangsbereich im Untergeschoss freigab. Eine breite Treppe aus schwarz und weiß marmoriertem Stein führte nach unten. Alles in diesem Haus war gediegen und edel, ohne eine Spur prunkhaft zu wirken. Janica hoffte, auch eine solcherart gestaltete Toilette vorzufinden.
Die Tür zur Küche stand weit offen. Tirina trällerte lauthals vor sich hin und rührte in einem Topf, der auf dem Herd stand. Sie zuckte ein wenig zusammen, als Janica ein zaghaftes »Guten Morgen!" von sich gab.
»Guten Morgen ist gut! Es ist fast Mittag! Hast du Hunger?"
Janica hob die Schultern: »Wahrscheinlich! Aber zunächst muss ich … Äh, also ich muss … Ich finde die Heimlichkeit nicht!"
Tirina lachte auf: »Heimlichkeit heißt das also bei euch! Das klingt gut, das muss ich mir merken! Wenn du den Abtritt meinst, der befindet sich draußen auf dem Hof! Du kannst ihn nicht verfehlen, da draußen gibt es nur ein einziges kleines Holzhäuschen, was dazu noch unangenehm riecht!"
Verdattert verließ Janica das Haus. Sie hatte am Vorabend in der Dunkelheit nicht viel von dem Anwesen erkennen können, jetzt fand sie sich inmitten einer Hofstelle mit Herrenhaus, Stall und Vorratsgebäuden wieder, die durchaus einem wohlhabenden Landadeligen hätte gehören können. Und inmitten der imposanten Gebäude stand ein kleines verwittertes Häuschen, dessen Tür jämmerlich in den Angeln quietschte, als Janica sie öffnete. Der Duft, der aus der Grube unter dem schlichten Holzsitz aufstieg, war wirklich nicht sehr appetitanregend. Aber wenn sie nicht platzen wollte, musste sich die Prinzessin mit den Gegebenheiten abfinden.
Deutlich erleichtert kehrte Janica in die Küche zurück. Tirina stellte ihr eine Waschschüssel vor die Nase und reichte ihr ein Tuch
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