Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
vordrang. Das kaum hörbare Wispern von Sandkörnern unter zierlichen Füßen ließ ihn wieder aufmerken. Er sah in die Richtung, in die Fe’a verschwunden war.
Was er erblickte, war das makelloseste Wesen, was er je gesehen hatte. Die Nixentochter Lo’a trat mit schüchtern gesenktem Kopf auf sein Lager zu. Über ihrem Arm trug sie seine Hose und seinen Kaftan, in der anderen Hand seine Stiefel. Ihr seidiges Haar streifte Avids nackte Haut, als sie das Schuhwerk auf den Boden stellte. Er konnte sehen, dass das Glänzen ihrer Haut von winzigen, silbrigen Schuppen herrührte. Ihr Leib war gertenschlank, mit weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen. Avid ließ seine Hände dort, wo sie sich gerade befanden, denn es wäre ihm peinlich gewesen, wenn die junge Nixe gesehen hätte, dass ein gewisser Körperteil sich mit einer heftigen Erektion ins Leben zurückmeldete.
»Du hast mich vor dem Ertrinken bewahrt! Danke!«, sagte er mit heiserer Stimme zu ihr. Sie erwiderte nichts, lächelte nur unsicher.
»Lo’a? Ich möchte mich gern anziehen, würdest du bitte … Also, könntest du dich für einen Augenblick umdrehen?«
»Warum? Dann könnte ich doch deinen Körper gar nicht sehen! Ich habe noch nie einen Menschenmann ohne Kleider gesehen!« Sie sah ihn dermaßen unschuldig bei diesen Worten an, dass Avid beinahe laut – und ein wenig verzweifelt – aufgelacht hatte.
»Es wäre mir lieber, du würdest mich später einmal ausgiebig betrachten, Lo’a! Wie es aussieht, kann ich vorerst nicht hier weg, und wir haben genügend Zeit dafür!«
Ihre pupillenlosen Augen leuchteten auf.
»Willkommen bei uns auf dem Seegrund, Avid!«
Jedes ihrer Worte sang eine eigene kleine Melodie, ihre Bewegungen wirkten sphärisch. Ihr Anblick machte es Avid leicht, sich damit abzufinden, dass die Welt, in der er bisher gelebt hatte, für ihn verloren war.
Vorerst.
33.Kapitel: Traurige Spuren
Noch immer steuerten kleine Fischerboote die Hafenmauer von Nurripur an, um Teile des Wracks der Brigantine von der See zwischen den Klippen hereinzubringen. Eine bedrückende Stille lastete über dem Platz, auf dem Männer des Handelshofes die Fundstücke ausbreiteten. Anadid schritt an zerbrochenen Bohlen und zerfetzten Segelresten vorbei, an Habseligkeiten der Seeleute wie Mützen und Tabaksdosen, an weinenden Frauen und wie erstarrt auf die Spuren des Unglücks starrenden Männern. Der Prinz gab sich wirklich Mühe, ein recht betroffenes Gesicht zu ziehen. Zumeist gelang es ihm auch. Das Zucken seiner Mundwinkel, wenn er ein zufriedenes Lächeln unterdrücken musste, konnte man durchaus auch als Anteilnahme deuten.
Der Ehrwürdige Ratgeber Inared stand gestützt auf seinen Stock vor den bisher grausigsten Fundstücken. Jemand hatte gnädig Tücher über die drei Leichen gebreitet. Anadid gesellte sich wie beiläufig zu seinem Wesir. Vielleicht lag ja Avid unter einer dieser Stoffbahnen. Er gönnte seinem Bruder durchaus ein standesgemäßes Begräbnis!
»Mein Prinz, ich bin ein alter Mann und kann mich schlecht niederbeugen. Würdet Ihr bitte die Planen zurückschlagen? Ich möchte mir die Toten genauer ansehen!«
Anadid überlegte einen Moment, ob er dieses Ansinnen zurückweisen sollte, schließlich war er nicht der Laufbursche des alten Gelehrten! Aber einerseits war er selbst darauf erpicht, die sterblichen Überreste der Seeleute zu sehen, andererseits war ihm durchaus bewusst, dass er unter Beobachtung stand. Die Leute ringsum belauerten ihn regelrecht, achteten auf jede einzelne seiner Gesten. Er machte sich nichts vor, bei den Untertanen seines Vaters war er nicht sonderlich beliebt, während Avid schon als kleiner Junge von jeder dreckigen Straßenhändlerin angehimmelt worden war. Wenn er erst Sultan war, würde er diesem Pack diese Unverschämtheiten zurückzahlen!
Unbewegten Gesichts beugte er sich nieder und lüpfte das erste, von Meerwasser und Blut durchtränkte Tuch. Anadid war nicht empfindlich, was den Anblick von Verstümmelungen betraf, hatte er doch selbst im Kampf schon Gegner regelrecht zerstückelt. Aber der aufgeschlitzte Torso, der kaum noch als menschlich zu erkennen war, brachte ihn dann doch aus der Fassung. Nur mühsam unterdrückte er den Würgereiz. Jemand hatte einen abgerissenen Unterarm, an dem noch die Hand an einigen Sehnen baumelte, zu dem kopf- und gliedmaßenlosen Körper gelegt.
»Das sind Fetzen von den Kleidern eines einfachen Matrosen, und schaut Euch die Hand genau an, welch
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