Drachenspiele - Roman
ein, und der Fahrer beschleunigte, als wären sie auf der Flucht. Er wechselte fortwährend die Fahrbahn in der ständigen Angst, nicht auf der schnellsten Spur zu sein. Paul bat ihn, langsamer zu fahren, er nickte, grummelte ein paar Worte, die Paul nicht verstand, und gab weiter Gas.
Christine schien all das nicht zu bemerken. Sie saà hinter dem Fahrer und schaute aus dem Fenster. Seit der Passkontrolle hatte sie nichts mehr gesagt, auf seine Bemerkungen nur mit einem Kopfnicken reagiert oder sie ganz überhört. Er konnte den Ausdruck in ihrem Gesicht nicht deuten. Die Nervosität vor der Einreise war einer seltsamen Teilnahmslosigkeit gewichen, die Paul an ihr nicht kannte. Am liebsten hätte er sie gefragt, was ihr durch den Kopf ging, aber er hatte nicht das Gefühl, darauf eine Antwort zu bekommen, und schwieg lieber. Er hatte sich vorgenommen, in den kommenden zwei Tagen keinerlei Ansprüche zu stellen, im Hintergrund zu bleiben, zu beobachten, genau hinzuhören und für sie da zu sein, wenn sie ihn brauchte.
Er nahm ihre Hand, sie lieà es geschehen, ohne ihn anzuschauen.
Die Melodie ihres Mobiltelefons lieà sie zusammenfahren. Sie klappte es auf, betrachtete im fahlen Schein der vorbeifliegenden StraÃenbeleuchtung die Zahlen auf dem Bildschirm. Eine chinesische Nummer. Sie lieà es klingeln.
»Soll ich rangehen?«, fragte Paul.
Sie zögerte, schüttelte den Kopf und steckte das Gerät zurück in ihre Tasche.
Sie rasten über eine sechsspurige, auf Stelzen gebaute Autobahn, in der Dunkelheit erkannte Paul Neubauten, so weit sein Auge reichte. Am Horizont sah er die Silhouette von Pudong auftauchen. Je näher sie kamen, desto überwältigender war der Anblick. Paul erinnerte sich an seine erste Reise nach Shanghai. Wo sich jetzt Wolkenkratzer reckten, lagen damals Korn- und Reisfelder, und Schweine suhlten sich im Dreck. Die vierzigstöckigen Hochhäuser waren zu beiden Seiten nun fast bis an den StraÃenrand gebaut. Paul konnte durch manche Fenster in die Wohnungen sehen, er schätzte, dass sie ungefähr in Höhe des achten Stocks in die Stadt hineinfuhren. Christine saà noch immer stumm neben ihm und schaute aus dem Fenster. Er war nicht sicher, ob sie überhaupt etwas wahrnahm.
Paul kannte das Astor House Hotel noch von einer seiner früheren Reisen. Es lag auf der anderen Seite des Suzhou Creek am Ende des Bunds, ein wuchtiges, neoklassizistisches Gebäude, das vor der Revolution zu den besten Adressen der Stadt gezählt hatte. Während er an der Rezeption Formulare ausfüllte, betrachtete Christine in der Lobby die Fotos ehemaliger Gäste: Albert Einstein, Bertrand Russell, Zhou Enlai und Charlie Chaplin blickten ernst von den Wänden.
Ihr Zimmer war fast halb so groà wie Christines Wohnung in Hongkong, die Deckenhöhe schätzte er auf fünf Meter, ein Teil der Wände war mit dunklem Teakholz getäfelt, der alte ParkettfuÃboden knarzte bei jedem Schritt. Die verschwenderische GroÃzügigkeit einer längst vergangenen Zeit, dachte Paul. Er fiel erschöpft aufs Bett, während Christine sich auszog. Sie verschwand im Bad, kurz darauf stand sie nackt vor ihm. Es war das erste Mal, dass er sie unbekleidet
sah und nicht sofort begehrte. Ihre dünnen, aber muskulösen Arme und Beine, ihre hervorstehenden Beckenknochen, über denen die Haut spannte, ihre kräftigen Brüste. Ein wunderschöner Anblick und dennoch ohne jede Erotik. Die erschreckende Fragilität des menschlichen Körpers, seine Verletzbarkeit. Sein Verlangen nach Schutz, nach Zärtlichkeit. Seine Bedürftigkeit.
Sie kroch ins Bett, er zog sich schnell aus und legte sich zu ihr. Sie schmiegte sich an ihn, legte ihren Kopf auf seine Brust und flüsterte: »Halt mich fest. Halt mich ganz fest.«
Er legte seine Arme um sie, streichelte ihren Nacken, wagte nicht, sich zu bewegen, bis er schlieÃlich den vertrauten Atem der Schlafenden vernahm.
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Als sie am nächsten Morgen pünktlich um acht Uhr die Hotellobby betraten, wartete dort eine junge, groà gewachsene und ungewöhnlich schöne Frau, die sie mit einem schüchternen Lächeln begrüÃte.
Christine musterte Yin-Yin. Auf den ersten Blick konnte sie keine Ãhnlichkeit entdecken. Weder mit ihr selbst noch mit ihrer Mutter, Yin-Yins GroÃmutter. Sie beide waren klein, Yin-Yin dagegen war groà und besaà die weiÃe Haut
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