Drachenspiele - Roman
diesem Sofa, diesem Haus, diesem Dorf aus betrachtet, war er wirklich ein ausgesprochen wohlhabender Mann. Eine Frage der Perspektive. »Ich lebe von dem, was mein Erspartes abwirft. Ich lebe bescheiden. In Hongkong würde mich niemand zu den Reichen der Stadt zählen. In China schon.«
»Und was machst du?«
Diese Frage hatte ihm lange niemand mehr gestellt.
»Was ich mache...?« Wo beginnen? »Ich hatte einen Sohn. Der ist gestorben. Seitdem...« Paul wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte. »Seitdem... seitdem mache ich nicht viel.«
Da Long betrachtete ihn lange. Es lag kein Misstrauen in seinem Blick, eher Verwunderung und Neugierde, vielleicht auch Respekt, aber um da sicher zu sein, kannte Paul ihn nicht gut genug. Das Zucken im Gesicht war abgeklungen, die Lippen wölbten sich wieder.
»Wenn ein Mensch sein eigenes Selbst noch nicht entfaltet hat, so wird das sicher in der Trauerzeit geschehen.«
»Wer hat das gesagt?«
»Konfuzius.«
Paul schloss die Augen. Eine innere Stimme wiederholte
die Worte, er lieà den Kopf auf das schwarze Kunstlederpolster sinken. Wenn dieser Satz des chinesischen Philosophen stimmte und er zurückblickte auf das, was sich in den zurückliegenden gut drei Jahren entfaltet hatte, stellte sich die Frage, wer er war. Ein Mensch, der nicht Abschied nehmen konnte? Der gern in Selbstmitleid versank? Ein Mensch, der kein Maà kannte?
Der maÃlos war in seiner Art zu trauern.
MaÃlos in seiner Art, sich zu trennen.
MaÃlos in seiner Angst, in seiner Wut, in seinem Begehren.
MaÃlos in seiner Art zu lieben.
Das Extreme war ihm schon immer wohlvertraut gewesen. Das Elternhaus hatte er mit neunzehn Jahren, nach dem Selbstmord der Mutter, verlassen, den Vater nie wieder gesehen. Aus dem Land, dessen Bürger er laut Reisepass war, war er damals ausgereist und nur einmal zurückgekehrt, zur Beerdigung seines Vaters. Seinen letzten Job als Reporter hatte er verloren, weil er dem in Hongkong zu Besuch weilenden Chefredakteur des amerikanischen Magazins im Foreign Correspondents Club bei einem Streit sein Bier über den Kopf geschüttet hatte. Danach hatte er als Journalist nie wieder eine Zeile geschrieben. Nach der Geburt seines Sohnes wollte er ausschlieÃlich Vater sein, lehnte alle Aufträge und Arbeitsangebote ab und kümmerte sich um das Kind, während seine Frau in der Bank Karriere machte.
Er kannte keinen Mittelweg. Liebeshungrig. Lebenshungrig.
Vielleicht, dachte er, hatte er sich seit Justins Tod weniger vom Leben als einfach von der Gemeinschaft zurückgezogen, vielleicht hatte sein Selbst diese Einsamkeit gewählt, weil es sich in den Jahren nur dort und nur in dieser Weise entfalten
konnte. Was aber war näher am Leben, als zu sich selbst vorzudringen, seiner eigenen Wahrheit ins Auge zu schauen?
»So habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Möglicherweise hat Konfuzius Recht.«
»In diesem Fall bist du wirklich reich.« Als er sah, dass Paul nicht verstand, was er meinte, fügte er hinzu: »Wer sein Selbst entfalten kann, ist reich, oder nicht?« Da Long lächelte verschmitzt, stand auf, ging in die Küche und kehrte nach einigen Minuten mit einer Kanne Tee, zwei Tassen und einer Schale mit gerösteten Wassermelonenkernen zurück.
»Und du?«, fragte Paul.
»Ich bin Ingenieur. Hab nach der Kulturrevolution studiert, in einer Militärfabrik in Sichuan gearbeitet und später in einem Unternehmen, das Werkzeuge herstellt, in Yiwu. Vor einem Jahr bin ich in Frührente gegangen.«
»Und?«
»Kein und.«
Paul neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn ungläubig an: »Das muss die kurze Version sein.«
»Die ausführliche bekommst du ein anderes Mal«, erklärte Da Long sehr bestimmt, aber nicht abweisend.
Paul überlegte kurz, ob er ihn auf Christine ansprechen sollte, fand aber, dass ihn die Gründe für das Schweigen in der Familie Wu nichts angingen. Wenn Da Long wollte, würde er es ihm irgendwann einmal erzählen.
Stattdessen dachte er an die Worte des Astrologen. »Glaubst du an chinesische Astrologie?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Nur so.«
Nur so? Ein fragender Blick.
»Die kurze Version meiner Antwort. Die ausführliche bekommst du ein anderes Mal«, entgegnete Paul.
Da Long lächelte. »Wenn zwei Menschen einen ähnlichen Humor haben, steht das Haus der
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