Drachenspiele - Roman
mit ungeschickter Hand Wasser ein.
»Sei vorsichtig«, warnte ihn Da Long. »Sie darf sich auf keinen Fall verschlucken.«
Er war viel zu hastig gewesen, sie kam mit dem Schlucken nicht nach, das meiste rann ihr aus den Mundwinkeln wieder heraus, lief das Kinn und den Hals hinunter oder tropfte auf den Schlafanzug. Paul merkte, wie ihr Körper sich mühte, plötzlich begann sie zu husten und zu würgen. Zuerst ein wenig, dann immer heftiger. Sie hatte sich verschluckt. Er versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten, doch der versteifte
mehr und mehr und war kaum noch zu bewegen. Da Long kam zu Hilfe, zu zweit versuchten sie, Min Fang hinzusetzen. Er schlug seiner Frau heftig auf den Rücken und schrie: »Min Fang! Min Fang!«
Ihr Husten steigerte sich mit jeder Sekunde. Ihr bleiches Gesicht wurde rot, sie schnappte mühsam nach Luft.
»Bitte! Min Fang, atme. Hole Luft. Atme. Bitte. Bitte«, rief er flehentlich.
Da Longs Ton fuhr Paul durch Mark und Bein. Es war die Stimme eines Menschen, der den Tod nahen sieht.
Die Prophezeiung des Astrologen - schoss es Paul durch den Kopf. Der erste Satz hatte gelautet: Sie werden Leben nehmen.
Nicht töten, nicht morden, aber: Leben nehmen.
Paul geriet in Panik. In seinen Armen wand sich ein verkrampfter, steifer, nach Luft ringender, um sein Leben kämpfender Körper. Es war seine Schuld. Ein Glas Wasser. Wasser! Vor Wasser sollte er sich hüten. Durch seine Unachtsamkeit würde der erste Teil dieses Orakels seine Erfüllung finden.
Da Long riss seine Frau an sich, schlang von hinten die Arme um ihren Oberkörper und drückte mehrmals kräftig auf Bauch und Brust. Sie warteten, die Zeit stand still. Nicht mehr zu den Lebenden, noch nicht zu den Toten gehörend. Nach einigen endlosen Sekunden wurde das Husten weniger, das Würgen lieà nach, sie hörten sie wieder Luft holen, kurz darauf hatte sich ihr Atem stabilisiert.
Paul taumelte zum Sofa, vollkommen erschöpft.
»D-d-du zitterst ja am ganzen Körper«, sagte Da Long. »S-s-setz dich, ich hole dir Wasser.«
»Es tut mir furchtbar leid«, stammelte Paul. »Es war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst.«
»N-n-nein«, versuchte Da Long ihn zu beruhigen. »Sie
verschluckt sich häufiger, auch bei mir. Nur, so schlimm war es noch nie. Wir haben Glück gehabt.« Nachdem er Paul eine Weile beobachtet hatte, fügte er hinzu: »Du warst genauso erschrocken wie ich. Ist alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«
Paul trank das Glas in einem Zug leer. »Danke. Geht gleich wieder.«
Da Long setzte sich neben ihn aufs Sofa. Auch er zitterte. Das verschwitzte Hemd klebte auf seiner Brust, die vollen Lippen waren zu zwei schmalen Strichen verformt, das linke Auge zuckte unkontrolliert. Sie hockten nebeneinander, schweigend, jeder versunken in seinen eigenen Erinnerungen. Paul starrte auf die Digitaluhr unter dem Fernseher, das Lichtspiel und die Verlässlichkeit, mit der die Drei auf die Zwei folgte und die Vier auf die Drei, beruhigten ihn.
Da Long tauchte als Erster wieder auf. »Woher sprichst du eigentlich so gut Chinesisch?«, fragte er.
»Ich lebe seit über dreiÃig Jahren in Hongkong«, erwiderte Paul und wandte sich ihm zu. »Dort habe ich Kantonesisch gelernt. Mandarin mochte ich schon als Kind. In den achtziger und neunziger Jahren bin ich sehr viel in China unterwegs gewesen. Daher mein Mandarin.«
»Was hast du in China gemacht?«
Paul zögerte kurz mit der Antwort. Was würde Da Long sagen, wenn er erfuhr, dass er einem ehemaligen Journalisten gegenübersa� Die Menschen in China reagierten nach seiner Erfahrung darauf entweder mit Neugier, Misstrauen oder Respekt; an nichts davon war ihm jetzt gelegen, aber er wollte auch nicht die Unwahrheit sagen.
»Ich habe für amerikanische und britische Zeitungen und Zeitschriften aus China berichtet.« Als Da Long keine Reaktion zeigte, fügte er hinzu: »Später war ich Ãbersetzer und
Berater für westliche Firmen, die in China investieren wollten.«
»Und jetzt?«
»Was ich mache, oder wovon ich lebe?«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Bei mir nicht.«
»Dann musst du sehr reich sein.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nur reiche Menschen kennen diesen Unterschied.«
Paul wollte widersprechen, ihm erklären, dass er sich täuschte, doch dann wurde ihm bewusst, wo er saÃ. Von
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