Drachenspiele - Roman
sich um den Jungen?«
»Er ist tot. Gestorben, eine Woche nach der Geburt.« Frau Zhang wischte sich Tränen aus den Augen. »Unser einziger Enkel. Er kam als Krüppel zur Welt. Ich war bei der Geburt im Krankenhaus und habe ihn gesehen. Er sah furchtbar aus. Wie ein...« Sie beendete den Satz nicht und fing zu weinen an.
Yin-Yin nahm ihre Hand, es tat ihr leid, so direkt gefragt zu haben. »Entschuldigung, davon hat mir niemand etwas gesagt.«
»Ist schon gut. Ihr habt ja eure eigenen Sorgen.«
»Woran litt Fengs Sohn?«
»Er kam blind und taub zur Welt. Das Herz war viel zu groÃ, Hände und FüÃe verformt. Die Geburt war schwierig, Feng kann jetzt keine Kinder mehr bekommen«, erzählte Frau Zhang, und ihre Stimme begann wieder zu zittern. Sie schluckte mehrmals und fuhr fort: »So etwas passiert, haben die Ãrzte gesagt. Schicksal. Genau wie bei der Tochter der Bas. Die einzigen beiden jungen Frauen, die im Dorf geblieben sind, bringen Krüppel zur Welt. Auf diesem Ort liegt ein Fluch, Yin-Yin, ich sage es dir. Du hast gut daran getan, früh wegzugehen.«
»Was ist mit dem Enkel der Bas geschehen?«, fragte Yin-Yin vorsichtig.
»Es ist ein Mädchen. Sie ist blind, wurde auch mit einem Herzfehler geboren, hat aber überlebt - bisher. Wusstest du das nicht?«
Yin-Yin schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Bas gar nicht. Sie sind erst hergezogen, als ich schon in Shanghai war. In welchem Haus leben sie?«
»Sie wohnen jetzt mit ihrer Tochter und dem Kind in Yiwu. In der Nähe vom Peopleâs Hospital Nummer Zwei. Die Kleine muss oft ins Krankenhaus, habe ich gehört.«
»Waren Feng und die Tochter der Bas gut befreundet?«
»Nicht sehr eng. Sie sind oft zusammen angeln gegangen.«
Yin-Yin wurde übel, sie fühlte ihr Herz rasen. Wie in den Minuten vor der Musikprüfung im Konservatorium oder dem Vorspielen bei den Symphonikern. Sie bezweifelte nicht mehr, dass Pauls Theorie stimmte, sie zweifelte, ob sie wirklich alles wissen wollte. Je mehr Opfer das Gift im See gefordert hatte, umso geringer waren die Chancen auf ein kleines Schmerzensgeld,
dachte sie. Niemals würde Sanlitun eine Schuld eingestehen und ein ganzes Dorf entschädigen. Was nützt uns Wissen, mit dem wir nichts anfangen können? Sie war eine junge Frau, die davon träumte, als Musikerin Karriere zu machen, ach was, Karriere, sie wollte in einem Orchester spielen und von ihrer Musik bescheiden leben können. Sie brauchte keine Eigentumswohnung und kein Auto. Sie stellte keine hohen Ansprüche. Wenn sie den richtigen Mann traf, würde sie ein Kind wollen und es in der Hoffnung aufziehen, dass es ihm nicht schlechter gehen würde als ihr. Sie wollte sich nicht mit toxischen Stoffen in einem See beschäftigen. Sie wollte nichts mehr über vergiftete Fische, tote Katzen und verkrüppelte Neugeborene erfahren. Sie wollte gar nicht wissen, wie das Gift ins Wasser gelangt ist, ob es ein Unfall, ein Versehen oder kalte Absicht war. Sie wollte die Verantwortlichen nicht kennen. Sie hatte nicht das Zeug zur Heldin.
»Das tut mir sehr leid«, sagte sie und stand auf. »Ich hoffe, Feng geht es bald besser.«
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Paul und ihr Vater saÃen schweigend auf der kleinen Veranda, Yin-Yin erzählte atemlos, was sie erfahren hatte.
»Kann das auch etwas mit dem Quecksilber zu tun haben?«, wollte sie von Paul wissen.
Er nickte. »Es gehört zu den Giften, die in die Plazenta eindringen und Embryos schädigen. Das ist in Japan auch passiert. Ich habe alles noch einmal nachgelesen.«
»W-w-wie ist das Quecksilber damals ins Meer gekommen?«, fragte Da Long.
»Chisso, eine japanische Chemiefirma hat es über Jahre hineingeleitet.«
»E-e-es war kein Unfall?«, sagte ihr Vater erstaunt.
»Nein.«
»S-s-sie wussten, was sie taten?«
»Ja. Der Zusammenhang zwischen dem Gift und den Toten und Kranken war zwar nicht sofort klar, aber selbst nachdem Tests das erwiesen hatten, haben sie noch jahrelang weiter Quecksilber ins Meer gekippt.«
Das Interesse Da Longs an der Katastrophe von Minamata wuchs mit jedem Satz. Er hatte sich aufgerichtet und hörte genau zu. »Was haben die Fischer gemacht?«
»Sie haben Chisso verklagt.«
»Und?«
»Der Prozess zog sich über Jahre hin.«
»Wurden am Ende Leute bestraft?«
»Soweit ich weiÃ, nicht. Allerdings musste die
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