Drachensturm
Drache wusste, wie Nabu sie zu nennen pflegte. Sie schwieg.
» Aber wenn du es weißt und der Fluch dich nicht schreckt, dann bist du mutiger, als ich dachte – oder dümmer«, meinte Nergal mit einem heiseren Lachen. Mila hörte, dass er sein massiges Haupt schüttelte, als könnte er es nicht glauben. Dann kam er näher und senkte seine Stimme. » Was meinen alten Freund angeht, so kannst du ihm etwas ausrichten – wenn du ihn denn wiederfinden solltest. Sag ihm, dass er sich nicht mehr lange hinter unseren Eiden verstecken kann, denn ich prophezeie, dass sie nicht mehr lange Bestand haben werden.«
» Du willst deinen Eid auf den Orden brechen?«
Nergal zischte. » Ich bin ein Drache, kein Mensch, ich achte meine Schwüre. Aber ich sage dir, dass dieser Orden nicht mehr lange bestehen wird. Ich fühle es. Alles ändert sich, und dass du die Gabe hast, ist doch nur ein weiteres Zeichen dafür, dass die Welt, wie wir sie kennen, zu Ende geht. Und weißt du was? Das ist mir höchst willkommen, denn ich kann sie schon fast schmecken, die Freiheit, die ich so lange dem Frieden unter uns Drachen geopfert habe. Nabu soll sich in Acht nehmen!« Dann erhob er sich und drehte sich auf der engen Kreuzung. Er lachte, spannte die Flügel, und mit drei Schlägen seines mächtigen Schwanzes brachte er die Häuser rechts und links des Weges zum Einsturz. Mila hörte Holz brechen und Steine zu Boden poltern. Entsetzt sprang sie ein Stück zurück. Sie hörte noch, dass Nergal mit seinen mächtigen Flügeln schlug, dann flog er davon. Sie blieb beklommen zurück. Der Weg, den sie genommen, den sie sich eingeprägt hatte, war durch Schutt und Trümmer versperrt.
Mila versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Sie hätte einfach um Hilfe rufen können, der Platz konnte nicht so weit entfernt sein, aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben, nicht jetzt, wo die Pizarros und ihre Männer eingetroffen waren. Über das Trümmerfeld zu klettern, das Nergal zurückgelassen hatte, wagte sie nicht, denn sie wusste nicht, ob der Schutt nicht unter ihr zusammenbrechen würde. Sie versuchte, einen anderen Weg in der Dunkelheit zu finden. Zu ihrem Unglück verliefen die Straßen nicht gerade, sondern wanden sich in Kurven durch die Finsternis, die sie seit ihrer Geburt umgab. In diesem Teil der Stadt ging es bergauf und bergab, und einmal wäre sie beinahe eine unvermutet auftauchende Treppe hinuntergestürzt. Ihre Wut auf Nergal wuchs mit jedem Schritt, vor allem, da ihr klar wurde, dass sie nur ihre eigene Hilflosigkeit unter Beweis stellte, wenn sie sich bei den Ordensoberen über ihn beschwerte. Sie war vielleicht eine Stunde durch die engen Gassen geirrt, als sie über sich ein Rauschen hörte. Es klang vertraut. » Nabu?«, rief sie nach oben. Das Rauschen entfernte sich, kehrte dann aber zurück.
» Mila?«, rief der Drache hinab.
» Ich bin hier!«, rief sie.
Augenblicke später landete der mächtige Drache auf dem Dach eines nahen Hauses, das unter seinem Gewicht bedenklich ächzte. » Bist du des Wahnsinns, dich allein hier herumzutreiben?«, fragte Nabu.
» Nergal hat mir den Rückweg versperrt«, rief sie zurück. Und dann schilderte sie dem Drachen, was geschehen war.
» Das sieht ihm ähnlich«, brummte Nabu. » Ich nehme an, du hast diese Geschichte unserer alten Feindschaft zu verdanken, Prinzessin. Und was seine Drohungen angeht, nun, ich habe ihn schon einmal besiegt.«
» Aber glaubst du denn auch, dass der Orden vor dem Ende steht, Nabu?«, fragte Mila besorgt.
Der Drache zögerte, dann erwiderte er nachdenklich: » Nein, das glaube ich nicht. Nergal wünscht sich das vielleicht, doch ist er da wohl der Einzige unter uns. Aber nun müssen wir sehen, dass wir dich zurückbringen. Ich würde dich aufsteigen lassen, die Gasse hier ist allerdings zu schmal.«
» Es würde auch seltsam aussehen, wenn ich zu Fuß fortgehe und auf meinem Drachen zurückkehre«, meinte Mila.
» Ich verstehe«, sagte Nabu, » du willst nicht zugeben, dass du dich verirrt hast.«
Sie nickte seufzend.
» Es ist gar nicht mehr weit, Prinzessin. Nur einige Dutzend Schritte von dir entfernt öffnet sich zur Rechten eine Gasse. Sie schlägt zuerst einen scharfen Bogen in die scheinbar falsche Richtung, aber dann führt sie zum Platz.«
» Was ist das eigentlich mit der alten Feindschaft zwischen dir und Nergal?«, fragte Mila jetzt.
» Es ist eine lange Geschichte, und jetzt ist sicher nicht der rechte Zeitpunkt …«
» Genau jetzt,
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