Drachensturm
… wie alt bist du, Payakmama?«, fragte er das Erste, was ihm in den Sinn schoss.
Die Alte lachte. » Ich habe irgendwann aufgehört, die Jahre zu zählen. So kurz scheinen sie geworden, fast wie Tage. Ich kann dir aber sagen, dass ich zum ersten Mal Großmutter wurde, als Túpac Inka hier erschien und die Stadt eroberte.«
» Aber das ist sechzig Jahre her!«, rief Kemaq.
Die Alte zuckte mit den Schultern. » Ist das so? Mag sein, mir erscheint es fast, als wäre es erst gestern gewesen. Es war ein harter Kampf nach einer langen Belagerung, die mehr als einen Mond gedauert hat. Ich habe Túpac selbst in die Stadt kommen sehen. Er ging zu Fuß, an der Spitze seiner Krieger, kam nicht in einer Sänfte. Ein stolzer und kühner Mann, das muss ich sagen. Aber gehasst haben wir ihn trotzdem. Unseren Tempel zerstörte er, und wir mussten an seiner Stelle einen für Inti errichten, und dann musste die Hälfte von uns die Stadt verlassen. Nach Cuzco wurden sie geschickt und an andere Orte, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann.« Die Alte verstummte und starrte ins Feuer.
» Warum kam der Sapay Inka hierher?«, fragte Kemaq.
» Zum Teil wegen des Silbers, denn er brauchte viel davon, um seinem Gott Inti zu huldigen und schöne Gefäße für ihn zu machen. Er kam auch, weil sie eben so sind, die Söhne der Sonne. Stamm auf Stamm und Volk auf Volk unterwarfen sie, und nichts konnte sie aufhalten. Aber hauptsächlich kamen sie, weil Tamachoc unseren Priestern enthüllt hatte, dass eines Tages weiße Männer kommen würden, um die Herrschaft der Inka zu beenden.« Payakmama seufzte. » Hätten sie dieses Wissen nur für sich behalten! So aber hörte der Inka davon, und er fragte seine eigenen Wahrsager und Traumdeuter, ob das wahr sei. Und die sagten ihm wieder, dass Pachakuti bevorsteht, eine Zeitenwende, und es der fliegenden Schlange bestimmt war, die letzten Söhne der Sonne zu sehen. Und deshalb kam Túpac hierher und hat versucht, den Glauben an die Regenschlange auszurotten. Er hoffte wohl, dass er Tamachoc selbst auf diese Weise bezwingen könnte. Aber er konnte unseren Gott ebenso wenig besiegen, wie Atahualpa die fremden Götter besiegen konnte. Pachakuti kommt – es ist da!«
» Woher weißt du das alles, Payakmama?«, fragte Kemaq ehrfürchtig.
» Túpac selbst hat es uns erzählt, da draußen auf dem Platz, als er die Priester töten und den Tempel einreißen ließ. Er sagte auch, dass die Regenschlange niemals über die Sonne siegen werde. Ich sehe ihn immer noch vor mir – Túpac, so stolz und grausam. Ein dunkler Tag war das, das Ende unserer Freiheit. Die Besten von uns hat er mitgenommen, die Priester getötet und die Verehrung Tamachocs verboten. Viele Menschen anderer Völker schickte er hierher, damit sie sich hier niederließen, und sie haben immer ein wachsames Auge auf das, was die Marachuna tun.« Ihr Blick schien Kemaq entrückt, als würde sie in die Vergangenheit schauen. » Wie müde ich bin«, sagte sie plötzlich.
Kemaq räusperte sich vorsichtig und fragte: » Aber Tamachoc wurde weiter verehrt, oder?«
Die Alte lachte. » Natürlich, mein Junge. Die Priester waren tot, aber andere traten heimlich an ihre Stelle. Der Tempel war zerstört, aber es gibt noch einen, der viel wichtiger ist. Und jedes Jahr zum Regenfest haben sich einige von uns aufgemacht, sind zu Tamachoc gegangen, haben das Opfer gebracht und um Regen gebetet. Und immer hat Tamachoc uns erhört. Doch dann wurden wir verraten.« Sie starrte ins Leere, und Kemaq entdeckte einen Ausdruck von Schmerz auf ihrem Gesicht. » Huáscar Inka hat daraufhin den einen Weg verschlossen, auch wenn es ihm um das Silber leidtat, und den anderen hat er gesperrt. Die letzten Priester haben sie aus ihren Verstecken geholt und getötet. Und jetzt geht niemand mehr und bittet die Regenschlange um ihre Gabe.«
Ein Scheit knackte im Feuer. Kemaq blickte in die Flamme. Das Sonnenvolk duldete die Götter der unterworfenen Völker für gewöhnlich – jetzt wusste er endlich, warum es bei seinem Volk anders war. Aber noch immer hatte er vieles nicht verstanden, vor allem nicht, was man von ihm erwartete. » Sag, Payakmama, was habe ich mit alldem zu tun?«, fragte er vorsichtig.
Sie antwortete nicht. Er wollte seine Frage wiederholen, aber dann stellte er fest, dass sie im Sitzen eingeschlafen war. Er traute sich nicht, sie zu wecken. Er legte Holz nach und wartete. Plötzlich öffnete die Alte die Augen wieder. Sie schien gar nicht zu
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