Drachensturm
merken, dass sie eingenickt war, denn sie setzte ihren Bericht einfach fort: » Huáscar hat die Wege zum Regentempel also geschlossen, und Atahualpa sah keinen Grund, sie wieder zu öffnen, auch wenn er sonst nicht viel von seinem Bruder zu halten scheint.« Sie lachte leise.
» Und was habe ich damit zu schaffen, Payakmama?«, wiederholte Kemaq seine Frage. » Ich bin doch kein Priester.«
» Aber ein Läufer bist du, einer, von dem die Chachapoya sagt, dass er Glück hat, und das ist wichtig, denn du musst den Tempel aufsuchen, Chaski, und um ihn zu erreichen, wirst du sehr viel Glück brauchen. Doch jetzt komm und iss. Du siehst hungrig aus.«
Mila öffnete die blinden Augen. In ihrem linken Unterarm spürte sie Schmerzen. Sie setzte sich auf. Es war eher ein Glühen, das schon schwächer wurde. Vielleicht war er nur eingeschlafen. Sie massierte ihn vorsichtig. Der Schmerz wich, er hinterließ ein Gefühl der Taubheit. Es musste noch Nacht sein, vielleicht gegen Morgen. Es war sehr still im Lager. Irgendwo gingen schwere Stiefel auf und ab – ein Wächter. Jetzt hörte sie einen zweiten husten. Dort murmelte und stöhnte ein Mann im Schlaf, einer der Spanier. Hoffentlich, so dachte Mila grimmig, quält ihn ein Albtraum. Nabu neben ihr atmete tief und ruhig. Sie schüttelte sich. Eine klamme Kälte war herangezogen und kroch durch alle Schichten ihrer Kleidung. War das Nebel? Sie spürte die hohe Luftfeuchtigkeit. Sie waren im Hochland, und schon am Tag waren sie praktisch durch Wolken hindurchmarschiert. Seltsam, dass die Indios sagten, es habe sehr lange nicht geregnet. Sie erhob sich und schüttelte ihren Arm vorsichtig, um diese Taubheit zu vertreiben, aber sie wich nicht. Und als sie ihren Stab mit der Linken fassen wollte, konnte sie ihn nicht festhalten. Ihr war klar, was das bedeutete. Für einen Augenblick überfiel sie starke Angst.
Der Fluch, er wurde stärker! Während der Schlacht von Caxamalca hatte sie es noch auf die Anspannung geschoben. Doch jetzt war es mitten in der Nacht geschehen. Für einen Augenblick fühlte sie sich verloren, aber dann, ganz unvermittelt, kehrte das Gefühl mit einem heißen Brennen in ihre Finger zurück. Sie atmete tief durch – offenbar war der Arm einfach nur eingeschlafen, aber der Schreck saß tief, an Schlaf war nicht mehr zu denken.
Sie lauschte in die Dunkelheit, weil sie glaubte, leise Stimmen zu hören. Ja, da war ein Flüstern, ein leiser Streit, etwas abseits des Lagers. Eine ruhige Stimme, und eine zweite, die nach unterdrückter Wut klang. Mila erhob sich. Sie wusste, es gehörte sich nicht, zu lauschen, aber dieser Streit zog sie magisch an. Sie tastete mit ihrem Stab vorsichtig den Boden nach Hindernissen ab, achtete darauf, den knisternden Feuern nicht zu nahe zu kommen, und schlenderte möglichst unauffällig auf einem Umweg näher an die beiden Streitenden heran. Sie hatten sich offenbar an den Waldrand zurückgezogen, was ihr sehr zupasskam, denn damit waren sie weit von den Wach- und Lagerfeuern entfernt.
Bald konnte sie die Stimme ihres Großonkels erkennen. Er sprach ruhig, aber entschieden. Jetzt antwortete der andere, und ihr wurde klar, dass es Ritter Balian war. Sie hatte sich etwas seitlich gehalten und war nun auch am Rand des Waldes angekommen. Die Stämme der Bäume waren feucht vom Nebel. Vorsichtig tastete sie sich weiter voran. Endlich verstand sie, was gesagt wurde: » … und auf vieles habe ich verzichtet, Graf Maximilian«, zischte Balian jetzt. » Glaubt Ihr denn, ein Mann mit meinem Besitz müsste sich Gedanken machen, eine angemessene Braut zu finden? Und doch habe ich nie den Wunsch verspürt, zu heiraten, nein, ich war und bin bereit, mein Leben ganz dem Orden zu widmen.«
» Nun, vielleicht solltet Ihr Euch nicht länger zurückhalten, Balian, denn ich kann nur wiederholen, was ich bereits Eurem Onkel gesagt habe; ich werde Euch weder als Nachfolger für ihn noch für den Marschall und schon gar nicht für mich vorschlagen. Ihr seid ohne Zweifel ein tapferer Mann, Balian, aber wer unseren Orden führen will, braucht eine ganz andere Art von Mut als die, die Euch zueigen ist.«
» Ist das Euer letztes Wort?«, fragte Balian scharf.
» Ich hoffe, Ihr nehmt Euch das nicht zu sehr zu Herzen, Balian«, sagte der Hochmeister. » Der Orden kann auf einen so erfahrenen Drachenritter wie Euch nicht verzichten, ich könnte aber verstehen, wenn Ihr unter diesen Umständen …«
» Unsinn!«, schnaubte Balian. » So leicht werde
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