Drachensturm
dünner Laut seine Neugier. Er blickte auf. Dort oben war etwas, einer der fliegenden Götter. Aber er flog nicht – er stürzte! Mit einem langen, klagenden Schrei fiel dieser Ankay Yaya vom Himmel. Er schlug mit den Flügeln, taumelte, überschlug sich in der Luft und fiel doch immer weiter. Ein Stück unter ihm entdeckte Kemaq jetzt noch etwas, was dem Boden entgegenraste. Es schimmerte silbern im Sonnenlicht und fiel scheinbar immer schneller. Der Reiter – das war der Reiter des fliegenden Gottes! Der Sturz schien Kemaq endlos lange zu dauern, und plötzlich wurde ihm klar, dass der Fremde und der fliegende Gott gar nicht weit von ihm entfernt auftreffen würden. Hinter ihm ließen zwei Träger ihre Balken fallen und rannten davon. Andere folgten ihrem Beispiel, während Kemaq immer noch ungläubig nach oben starrte und den wie ein schweres Herbstblatt zu Boden taumelnden Drachen beobachtete.
» Komm, weg hier!«, schrie Yuraquiwa. Kemaq erwachte aus seiner Erstarrung. Sie warfen den Balken fort und rannten, dabei blickte Kemaq immer wieder nach oben. Der Drachen schrie nicht mehr, schlug auch nicht mehr mit den Flügeln, sondern fiel wie ein lebloses Stück Holz der Erde entgegen. In dem allgemeinen Durcheinander, dem Schreien der Männer und Poltern der weggeworfenen Balken, dem Staub und dem Lärm verlor Kemaq den Reiter aus den Augen, aber den Drachen sah er fallen, und als sein riesiger Leib mit dumpfem Laut inmitten der Balken aufschlug, da erzitterte der Boden wie bei einem Erdbeben. Zerborstenes Holz flog durch die Luft, und Männer schrien entsetzt auf. Dann folgte eine schreckliche Stille.
Mila spürte die Erschütterung des Bodens noch in der Stadt.
» Heilige Mutter Gottes, Sir William«, flüsterte ihr Großonkel.
» Schamasch!«, rief Marduk heiser. » Er ist gefallen!«
Lähmendes Entsetzen, das war es, was Mila fühlte, und sie spürte es auch bei den anderen.
» Was zum Teufel war das?«, rief Don Hernando laut vom Palast herüber, und damit löste er die Erstarrung.
Wortlos kletterten Mila und der Hochmeister auf die Rücken ihrer Drachen, und schon waren sie in der Luft. Es war nicht weit bis zur Unglücksstelle, und kein Wort wurde bis dahin gesprochen. Mila hörte ihren Onkel abspringen, kaum dass Marduk gelandet war. Sie selbst blieb sitzen, denn sie konnte die Lage nicht einschätzen. Es war einer der Momente, in dem ihr ihre Blindheit besonders schmerzlich bewusst wurde. Das Entsetzen war beinahe mit Händen greifbar. Sie spürte die vielen Menschen, die sich schweigend um die Unglücksstelle versammelt hatten, und sie glaubte, auch das Verhängnis spüren zu können, den Schmerz und den Tod selbst, oder war es die große Drachenseele, die schwer über dem Platz lag und sich nur langsam von ihrem zerschmetterten Körper lösen konnte? Und dann war doch Bewegung, ein einzelner Mensch, der aufgeregt den toten Leib zu umkreisen schien. Mila hörte seine schnellen Schritte. » Wer ist das?«, fragte sie leise.
» Warte«, sagte Nabu rau.
Ein flackerndes Licht leuchtete in der Finsternis auf, die Mila umgab, dann sprang das Flammenbild in ihr Bewusstsein. Helle und dunklere Flammen wirbelten, verfestigten sich und enthüllten ihr die grausame Wirklichkeit. Sie musste einen Schrei unterdrücken, denn der Leib Schamaschs lag dort so grotesk verdreht, dass sie ihn fast nicht wiedererkannt hätte. Seine schlanken Flügel waren gebrochen, sein Kopf lag auf der Seite, und seine langen Hauer schimmerten bleich über einem dunkel flackernden See, der sich rund um den Leib gebildet hatte. Mila begriff, dass sie sein Blut sah. Sie wandte sich ab, aber es half nichts, denn sie sah, was Nabu sah, und der konnte seinen Blick nicht abwenden. Dann entdeckte sie die lebhafte Gestalt, die plötzlich auf dem Leib des Drachen auftauchte und offenbar in eine rätselhafte Tätigkeit vertieft war. Es sah fast aus, als würde sie den Leib vermessen. Es war der Alchemist.
» Meister Albrecht, was tut Ihr da?«, fuhr ihn der Hochmeister an.
» Ein toter Drache, Graf Maximilian, ein toter Drache! Ein sehr seltenes Ereignis.«
Ein tiefes Grollen rollte über die Szene. Es kam aus Marduks Kehle, und er sagte: » Du stehst auf dem Leib eines Toten. Wenn du nicht sofort dort verschwindest …«
» Oh, verzeiht, ich wollte nicht respektlos erscheinen«, rief der Gelehrte, und Mila sah die Flammen, die seine Gestalt verkörperten, vom Leib des Drachen heruntertanzen. » Aber Ihr müsst verstehen, dass das ein
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