Drachentau
in den Arm genommen hatte, wenn sie weinte. Die mit ihr gelacht hatte, auf deren Schoß sie geklettert war, die ihr zugehört hatte, was immer sie erzählte. Und Rosa hatte viel zu erzählen gehabt. Sie erinnerte sich an ihren Geruch, der mit nichts zu vergleichen war, außer mit dem Sternengesang. Ihre Mutter, deren Wärme und Gegenwart ihre Kindheit durchzogen hatte, deren Liebe immer da war, egal was passierte. Ohne Mutter hatte man keine Kindheit. Rosa streichelte sanft über Tumaros Nüstern und küsste ihn. In ihr Herz hatte sich ein Pfeil gebohrt. Dieser stolze und prächtige Drache war immer allein gewesen. Aber auch sie würde allein sein, wenn sie ihre Kinder gebar.
Ach Mama,
dachte Rosa,
wärst du doch bei mir.
Sie blickte auf den Boden, damit er ihre Tränen nicht sah. Tränen machten Tumaros wütend.
»Komm, lass uns fliegen. Ich habe mich schon den ganzen Tag darauf gefreut.«
»Wir fliegen heute nicht.« Tumaros stand auf und ging in den hinteren Höhlenteil. »Komm mit, Rosa. Ich will mal was sehen.«
Rosa folgte ihm zu seinem Schatz. Mit einem gezielten Feuerstrahl zündete er die Fackeln an und die Höhle war hell erleuchtet. Er zeigte auf eine leere Stelle neben einem Münzenberg.
»Stell dich mal dort drüben hin.«
Rosa gehorchte. »Und was soll ich hier?«
»Ich will sehen, wie das aussieht.«
»Wie was aussieht?«
Tumaros schnaubte ungehalten. »Wie es aussieht, wenn ich alle meine Schätze beisammenhabe.«
»Alle deine Schätze? Ich bin doch nicht dein Schatz!«
»Doch. Bist du. Sogar mein bester. In hundert Jahren ist Drachenversammlung. Dann zeige ich dich dem König.«
»Dem König? Dem Drachenkönig? Und was passiert dann?«
Tumaros lachte laut. »Was dann passiert? Das werde ich dir sagen. Er wird dich haben wollen, denn niemand hat je eine so schöne Bärin gesehen.«
Rosa schlug die Hände vor den Mund. Mühsam hielt sie die Tränen zurück. »Der Drachenkönig soll mich bekommen?«, fragte sie leise.
Tumaros schüttelte den Kopf. »Niemals wird er dich bekommen, ich werde ihn zum Kampf auffordern.«
»Und wenn du verlierst?«
»Verlieren? Ich? Ich werde gewinnen und ihm die Königskrone abnehmen. Dann werde ich Drachenkönig sein. Stärker als er bin ich schon lange, aber niemand darf den König zum Kampf herausfordern ohne Grund.« Er sah Rosa an. »So gesehen hast du recht, der Drachenkönig wird dich bekommen, oder besser gesagt, behalten.«
Er blies die Fackeln aus, ging zurück zu seinem Schlafplatz, legte sich hin und schlief wieder ein. Rosa blieb zitternd beim Schatz zurück. Drachenversammlung dröhnte es in ihren Ohren! Wie viele Drachen kamen da? Sie als einzige Bärin dazwischen. Sie sank auf den Boden und hielt sich die Hände auf den Bauch.
Bin ich nur eine Sache,
dachte sie,
ein Schatz, ein Besitz, sonst nichts? Das kann nicht sein. Es ist schön, mit Tumaros zu fliegen. Er genießt es auch.
Langsam stand sie auf und ging in ihre Höhle. Sie legte sich hin und weinte sich in den Schlaf.
Der Morgen kam, grau und trist, der Himmel wolkenverhangen. Rosa stand auf und setzte sich in den Höhleneingang. Heute hatte sie keine Lust, Weidenzweige zu flechten. Sie wusste, dass Tumaros sie sah, und beachtete ihn nicht. Ihr Blick ging über die Bäume hinweg zu ihrem Dorf, dessen Existenz sich bei so diesigem Wetter nicht einmal ahnen ließ. Jakobs Worte klangen ihr im Ohr: Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu blicken. Ach, was wusste er schon von Drachen? War sie nicht glücklich hier oben? Ja, sie war viel allein und konnte nicht weg. Aber überwachte Tumaros sie nicht aus Sorge, dass ihr etwas passieren könnte? Ihretwegen flog er jede Nacht, um ihr eine Freude zu machen. Das musste doch Liebe sein, oder? Drachen lieben eben auf ihre Weise. Und die Drachenversammlung? Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Das war noch lange hin.
Rosa spürte, wie die Babys in ihrem Bauch zappelten, und strich zärtlich mit ihrer Hand darüber. Sie würde Tumaros das Vatersein schon noch beibringen. Bei aller Kontrolle, die er über sie hatte, war Rosa doch aufgefallen, dass auch sie ihn ein wenig beeinflussen konnte, wenn sie ihm tief in die Augen sah. Das würde sie ausnutzen.
Ach, heute ist doch nicht ein so schlechter Tag zum Flechten. Aber erst mal ein gutes Frühstück.
Der Winter kam und mit ihm die kurzen Tage. Der Wald wurde von Schnee und Frost bedeckt, sah aus, wie ein weißes Meer. Nur die Weide blieb von allem verschont. Rosa verbrachte nach
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