Drachentau
Seine Beine ließen sich schwerer bewegen, als wollten sie nicht nach vorne gehen, nur noch zurück. Die Sonne neigte sich langsam zum Westen und trieb Bodo zur Eile an. Aber jeder Schritt wurde schwieriger und langsamer. Er befürchtete, ganz stehen zu bleiben. Irgendein übler Zauber war auf diesem Weg. Der Boden zog ihn runter, wie ein Magnet Eisen anzieht. Bodo sank auf die Knie. Er holte tief Luft, versuchte seine Kräfte zu sammeln und sich gegen den Sog zu stemmen. Der Boden kam immer näher. Schon berührten seine Arme den Sand und sein Kopf wurde schwer. Vom Wegrand sah er lange, schwarze Arme mit knochigen Händen und Fingern auf sich zukommen. Er hörte kalte, mechanische Stimmen, die ihm befahlen, sich hinzulegen, sich ziehen zu lassen, zu kommen. Seine Glieder wurden immer kälter. Er sehnte sich nach Ruhe. Vor ihm tat sich ein schwarzer Abgrund auf, versprach Erlösung, wenn er sich fallen ließe.
Rosa, dachte Bodo,
Rosa, nur eine kleine Pause.
Seine Erinnerung ging zurück. Er sah Rosa in der Schulbank sitzen und eine Melodie summen, die er noch nie zuvor gehört hatte. Sie klang wunderschön und uralt. Sein Herz entbrannte. Die Wärme kehrte zurück. Erneut stemmte er sich gegen den Sog, mit aller Gewalt, bis er auf die Knie kam und aufstand. Aus dem Wald hörte er ein wütendes Zischen und Grunzen. Die schwarzen Arme zogen sich zurück. Die Augen blieben, starrend und lauernd. Bodo schleppte sich vorwärts, ließ Rosa nicht mehr aus seinen Gedanken. Der Drachenberg kam näher. Der Wald wurde lichter.
Bodo spürte ein neues Grauen. Die Luft war dicker, erschwerte das Atmen. An der Baumgrenze entlang ging er um den Berg herum. In der Felswand sah er den Busch, der den Geheimgang hinter sich verbarg, wie Jakob erzählt hatte. Der Himmel färbte sich rot, Bodo musste sich beeilen. Er kletterte die Felswand hoch, im großen Bogen um den Busch herum. Er nahm den gleichen Weg, den Eschagunde genommen hatte. Bevor die Sonne verschwand und den letzten Rest Licht mit sich nahm, saß Bodo hinter dem Busch. Er lehnte sich gegen den Felsen. Eine Öffnung war nicht zu sehen.
»Gut gemacht Bär«, sagte er zu sich selbst. »Du hast den Zaubergang gefunden, nur leider kannst du nicht zaubern. Was hast du denn gedacht, wie der Gang sich öffnet? Etwa durch den Zauber der Liebe?«
Bodo griff in seinen Rucksack und holte ein Brot heraus. Während er kaute, schweifte sein Blick über die Schwärze des Finsterwaldes. Wie ein riesiger Abgrund sah er aus.
Mein Herz ist genau so ein Abgrund ohne Rosa,
dachte Bodo.
So viele Jahre schon warte und hoffe ich, dass sie zurückkommt.
Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er lehnte seinen Kopf an den Fels. Er liebte Rosa so sehr, dass es sein Herz zerriss.
Die Wärme seines Körpers und das Glühen seines Herzens verbanden sich mit dem kalten Felsen. Der Zaubergang öffnete sich und schlagartig fiel Bodo nach hinten. Vor ihm tat sich ein großes, dunkles Loch von unglaublicher Schwärze auf. Sein Herz raste. Konnte es sein, dass er den Weg zu Rosa gefunden hatte? Hastig holte er seine kleine Lampe aus dem Rucksack und zwängte sich in den Stollen. Auf allen vieren ging es vorwärts, rechts und links berührte er beinahe die Wand.
Bodo ließ sich von der Enge nicht beirren. Er schob sein Licht vor sich her, getrieben von dem Gedanken, zu Rosa zu gelangen. Er gönnte sich keine Rast, bis er gerade eben seine Lampe noch halten konnte, bevor sie in eine Höhle abstürzte. Bodo sah noch, dass der Gang auf der linken Seite etwas höher weiterging, dann erlosch sein Licht. Er spürte die Kälte der Höhle, keine Kälte vom winterlichen Frost, eine Kälte von einem Grauen aus den tiefsten Tiefen des Berges. Genau wie auf dem Drachenweg im Finsterwald. Die Lampe ließ sich nicht wieder anzünden. Die Kälte begann, in seine Glieder zu ziehen. Bodo beeilte sich weiterzukommen, unentwegt an Rosa denkend. Der Stollen wurde noch enger. Kriechend bewegte er sich voran.
Dann kam das Ende. Der Stollen wurde breiter. Die Lampe ließ sich wieder anzünden. Bodo sah sich um und suchte Hinweise für eine Zaubertür. Soviel hatte er auf dieser Reise schon gelernt, normale Türen gab es hier nicht. Die Flamme der Öllampe flackerte. Ein Luftzug wurde spürbar. Ich hab ihn, dachte Bodo. Mit beiden Händen berührte er die Wand, dort wo er den Wind spürte. Alle seine Gedanken gingen zu Rosa. Er entflammte sein Herz mit allen Gefühlen, die er hatte. Und es geschah. Der Fels veränderte sich,
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