Drachentochter
hatte ich mir die Perlen vom Arm wickeln und das Buch an einem sicheren Ort in meinen Gemächern verstecken wollen, doch die Perlen hatten sich nicht lösen lassen. Das machte mir Angst und beruhigte mich zugleich. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Buch mitzunehmen, und seltsamerweise fühlte ich mich durch seine Berührung stärker und fähiger als sonst. Meine Finger strichen über die Lederkanten. Ich hätte das Buch lieber am Oberarm gehabt, doch die Perlen hatten eine Stelle gewählt, an der eine steife Stickerei die Ausbuchtung kaschierte.
Ich zuckte zusammen, als ein Diener neben mir auf die Knie fiel. Sein Scheitel reichte nur bis zum Boden der Sänfte, doch er hielt mir einen großen Porzellanbecher entgegen. Frischer, würziger Limonengeruch durchdrang den Mief aus Hitze und Schweiß.
»Mit Grüßen von Lord Tyron«, sagte der Diener. Auf der anderen Seite der Sänfte bot ein zweiter Lakai meinem Meister ebenfalls einen Becher dar.
»Ich hatte vergessen, wie lange es dauert, bis diese Umzüge beginnen«, sagte mein Meister und nahm einen Schluck. »Den Göttern sei Dank für Tyrons Weitblick.« Er verzog den Mund. »Die Limonen scheinen dieses Jahr etwas bitter zu sein.«
Ich behielt den süßsauren Saft kurz im Mund, ehe ich ihn schluckte, und fand ihn herb, aber nicht bitter. Dann sah ich meinen Meister an, der seinen Becher nur zögernd austrank. Vielleicht war es an der Zeit, ihn um Hilfe zu bitten. Ich konnte ihm noch nicht alles sagen, doch wenn ich einige der seltsamen Schriftzeichen des Buchs abmalen und ihm zeigen würde, wusste er vielleicht ihren Ursprung. Mit meinem Plan zufrieden, trank ich den restlichen Saft leer und gab dem Diener den Becher zurück. Mein Meister nahm nur noch einen weiteren Schluck, ehe er das Getränk dem neben ihm Knienden reichte.
»Richte Lord Tyron unseren Dank aus«, wies er ihn an.
Der Diener nickte und zog sich zurück.
»Ich glaube, da kommen die Torbeamten«, sagte mein Meister. »Wir werden gleich einziehen.« Beim Zurücklehnen verschob sich sein Stehkragen und enthüllte einen sichelförmigen Bluterguss. »Interessant, dass der Kaiser uns an die Spitze des Zuges beordert hat – noch vor Ido.« In seiner Stimme lag sanfte Bosheit.
»Ist Lord Ido heute Morgen mit Großlord Sethon in die Stadt geritten?«, fragte ich.
Mein Meister klappte seinen Fächer auf, bewegte die warme Luft aber nur hin und her. »Ja, aber die beiden haben sich gleich nach dem Stadttor getrennt: eine gewagte Bekundung ihrer Verbundenheit – jedenfalls für jene, die die Zeichen zu lesen wissen. Aber Ido kann während des Militärumzugs nicht neben Sethon reiten. Er muss mit uns unterhalb des Kaisers sitzen.«
»Es ist bald so weit, nicht wahr?«, sagte ich leise. »Sie werden den Umsturz demnächst versuchen.«
Mein Meister nickte. »Ja, das Spiel tritt in eine sehr spannende Phase.«
Obwohl ich nicht durch den Samtvorhang in unserem Rücken schauen konnte, bildete ich mir ein, von der Sänfte hinter uns Lord Idos unheilvollen Blick zu spüren. Bestimmt wusste er vom Verschwinden des roten Buchs und des Sonnenpulvers, denn er war vor dem Umzug sicher in seine Halle zurückgekehrt, um sich umziehen, und hatte dabei den Toten vorgefunden und den Diebstahl entdeckt. Ich schob die Erinnerung an Rannes leere Augen weg. Und Lord Ido hatte gewiss auch eine recht genaue Vorstellung davon, wer ihm diese Sachen weggenommen hatte. Ich hoffte nur, dass Dillon seiner Aufmerksamkeit entgangen war.
Unvermittelt kam mir das schwarze Buch in den Sinn, das neben seinem roten Gegenstück in der Vitrine gelegen hatte. Mich schauderte. Was mochte es damit auf sich haben, dass es mich so verängstigte? Vielleicht wusste mein Meister ja etwas darüber.
»Lord Brannon«, begann ich und lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Tor vor uns ab. »Habt Ihr je eine Darstellung von zwölf zu einem Kreis verbundenen Kugeln gesehen …« – ich beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis auf meiner Handfläche – »… bei der die beiden obersten Kugeln größer sind als die übrigen?«
Er ließ den Fächer in den Schoß fallen. »Wo hast du das gesehen?«, wollte er wissen und packte mein Handgelenk. »Wo? Sag es mir!«
Der Schrecken in seinem Blick ließ mich zurückfahren. »Nirgendwo«, sagte ich und suchte verzweifelt nach einer überzeugenden Lüge. »Dillon hat mir erzählt, er habe den Kreis an der Tür von Lord Idos Bibliothek gesehen.«
Er ließ mich los. »Sein Lehrling hat es an einer Tür
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