Drachentochter
Schwerthalterung stehen zu bleiben. Der Diebstahl war geschehen und ich konn te nichts mehr tun. »Hast du einen Plan?«
»Ich habe immer einen Plan«, erwiderte er.
»Warte.« Auch wenn ich die gleißende Wut der Schwerter eingebüßt hatte, so musste ich doch nicht auf den Trost der Totentafeln meiner Ahnen verzichten. Ich nahm die dünnen Holztäfelchen und zwängte sie zwischen die engen Falten meines Brustbands. Vielleicht würden mich diese Frauen, diese unbekannten Vorfahrinnen schützen. Und sollten sie es nicht tun, würde mich derjenige, der meinen Leichnam fände, vielleicht unter den Tafeln meiner Ahnen begraben.
22
Ich rümpfte die Nase über den Geruch verrottender Pflanzen und spähte in den kleinen Tunnel.
»Ist es das?«, wisperte ich. »Das Konkubinentor?«
Ich erinnerte mich daran, wie der Prinz – der jetzige Perlenkaiser – mir im Flüsterton davon erzählt hatte und wie aus seinem anzüglichen Grinsen Verlegenheit geworden war. Ob seine Gardisten ihn rechtzeitig aus dem Palast hatten bringen können? Ob er in Sicherheit war? Ich berührte die Tafeln an meiner Brust. Lasst ihn in Sicherheit sein, betete ich. Wie zur Antwort lockerten sich die Perlen und strafften sich dann wieder um meinen Unterarm.
Ryko kauerte sich vor das Gitter und schob weitere Pflanzen beiseite.
»Das ist ein geheimes Schlupfloch für den Notfall. Was hattet Ihr erwartet?«
»Es sieht aus wie ein Abwasserkanal.«
»Genau das ist es auch.«
Ich legte das schwere Schwert auf den Boden, das Ryko zwei Höfe zuvor einem toten Soldaten abgenommen hatte, und half ihm dabei, die Ranken zu entfernen, die sich fest um das Gitter geschlungen hatten. Er hatte dem Toten auch die Lederrüstung ausgezogen. »Ein alter Trick, aber ein guter«, hatte er gesagt, als er sie sich um den Leib schnallte und den soliden Lederhelm aufsetzte. Ein guter Trick für ihn, doch es gab keine Rüstung, die klein genug gewesen wäre, um aus mir einen überzeugenden Soldaten zu machen.
»Die Ranken sind völlig unbeschädigt. Diesen Ausgang hat niemand benutzt«, flüsterte ich. Waren die Hofdamen immer noch im Harem?
»Sie würden nicht hier herausgekommen«, erwiderte Ryko. »Der Tunnel hat ein Stück weiter an der Palastmauer noch einen Ausgang, nah am Fluss. Die Hofdamen würden von dort direkt zu den kaiserlichen Booten geleitet werden.«
Behutsam rollte er das Gitter beiseite. Das Eisen knirschte über den Stein. Bei dem Geräusch zuckten wir beide zusammen und lauschten angestrengt zu dem kleinen Soldatentrupp hinüber, der am Tor der Beamten Posten bezogen hatte. Doch sie hatten nichts bemerkt.
Ryko hatte recht gehabt – Sethon hatte den Großteil seiner Männer zum Sturm auf den Harem abgestellt. Wir hatten über eine halbe Glocke lang gebraucht, um den Aufmarsch der Soldaten rings um das Reich der Frauen vorsichtig zu umgehen, und eine weitere halbe Glocke, um beim äußersten Ende der Westmauer anzulangen. Die Anstrengung machte sich bei mir körperlich immer stärker bemerkbar und meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, so dass ich fürchtete, der nächste verstümmelte Leichnam oder die nächste kreischende Magd würde mich den Verstand kosten.
»Die Begleitwächter dürften die Laternen im Durchgang schon entzündet haben, aber wenn nicht …« Er zog die Kerzen aus der Bauchtasche und gab sie mir. Dann wickelte er ein Tonschälchen aus einem Ledertuch, nahm seinen Zündstein und griff einmal mehr zu seinem Lichtpulvertrick.
»In den Tunnel hinunter sind es fünf Stufen«, sagte er. »Bleibt dicht hinter mir.«
Ich hob mein neues Schwert auf und folgte ihm in das stinkende Loch.
Fünf glitschige Stufen. Feuchte, kalte Luft. Ryko zog mich am Ärmel und führte mich tiefer in die Dunkelheit hinein. Der Tunnel wechselte mehrmals die Richtung – so schien es mir jedenfalls, obwohl ich rasch die Orientierung verlor. Plötzlich trat weicher Untergrund an die Stelle des unbehauenen Steinbodens.
»Hier«, flüsterte er.
Ich spürte, dass er sich niederkauerte, und hörte ihn den Zündstein reiben. Ein Funke sprang ins Pulver und eine Flamme entzündete sich. Die plötzliche Helligkeit ließ mich die Augen zukneifen. Ryko tippte mir auf den Arm.
»Die Kerzen. Schnell.«
Ich hielt sie ihm hin und blinzelte in die kleine Flamme im Schälchen. Kaum hatte Ryko die Dochte angezündet, waren vom Lichtpulver nur noch kleine Rauchringe übrig. Als er mir eine der Kerzen reichte, schimmerte ihr Licht über Gold und Türkis.
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