Drachentochter
mein Meister plötzlich wissen. In den vier Jahren, die ich jetzt in seinen Diensten stand, hatte er mich nie danach gefragt.
»Kaum«, log ich ein wenig stockend.
Er nickte knapp. Seine Miene war noch undurchdringlicher als sonst. »Aber es hat sich als nützlich erwiesen.«
Der Oberträger rief seinen Männern etwas zu und wir hielten vor dem Tor der Arena. Eine gewaltige, vergoldete Holzskulptur des Spiegeldrachen – das Symbol des Kaisers – hing über dem Türsturz. Die schweren Stützpfeiler links und rechts waren mit zwei furchterregenden Türgöttern verziert, deren geschnitzte Schwerthände schon ganz abgegriffen waren von all den Menschen, die sie im Laufe der Jahre um Beistand angefleht hatten. Ich spähte durchs Stabgeflecht des schweren Tors, sah aber nur einen halbdunklen Gang und den hell flimmernden Sand des Kampfplatzes.
Der Oberträger blickte nach hinten zu meinem Meister, um weitere Anweisungen zu erhalten.
»Der Mauer nach, bis wir ans Portal der Zwölf Himmelstiere kommen«, sagte mein Meister und wies nach links.
Wir bewegten uns langsam an der Außenwand der Arena entlang und kamen am strahlenden, aus Gold und Jade erbauten Kaisertor vorbei, durch das der Ewige Sohn des Himmels einziehen würde. Auch an der Prachtstraße, die vom Tor zum Außenbezirk des Kaiserpalasts führte, drängten sich die Menschen bereits. Die meisten hatten selbst gemachte rote Fahnen dabei, um das neue Herrschende Drachenauge und dessen Lehrling zu bejubeln. Am letzten Neujahrstag hatte auch ich in der Menge gestanden und beobachtet, wie Amon – der neue Lehrling des Schweinedrachenauges – auf seinem Weg zu der Drachenhalle mit Glücksflaggen überschüttet worden war. Würde ich in wenigen Stunden durch einen Regen aus rotem Papier dem Pferd des Kaisers folgen?
»Sitz still, Eon«, befahl mein Meister.
Ich lehnte mich zurück und wandte mich von der Menge ab. Weiter vorn wartete eine offene Sänfte vor dem Portal der Zwölf Himmelstiere. Wir hielten ein wenig dahinter an und ich erkannte Dillons edlen Kopf und die fette, halslose Silhouette von Heuris Bellid. Ihre Träger waren gerade dabei, die Sänfte langsam auf zwei große Hebesteine abzusetzen. Dillon kletterte heraus, drehte sich um und half seinem Meister beim Aussteigen. Wenn wir allein waren, nannte er den feisten Mann mitunter »Meister Bauch«. Ich unterdrückte ein Lächeln, als Bellid die gefältelte rote Schärpe über seinem mächtigen Wanst zurechtzog und die Sänfte wegwinkte.
Zwei Torbeamte traten aus dem kleinen Wächterhaus. Sie waren gleich groß und traten ähnlich steif auf, doch der eine trug weiße Trauergewänder, die das vergehende Jahr symbolisierten, während der andere ins schimmernde Grün des neuen Jahrs gehüllt war.
»Das neue Jahr gehört zu Idos Anhängern«, sagte mein Meister leise. »Beobachte ihn, wenn du wissen willst, wie die Dinge im Drachenrat stehen.«
Die Beamten verneigten sich vor Bellid und Dillon, die die Höflichkeit erwiderten. Dann gab Bellid dem Neuen Jahr eine geschnitzte Schachtel. Ich sah kurz auf die Schatulle, die mein Meister auf den Knien hatte. Sie enthielt den traditionellen Tribut für das Drachenauge, das seinen Platz heute für seinen Lehrling räumen würde. Jeder Heuris zahlte für die Ehre, seinen Anwärter präsentieren zu dürfen, und entschädigte den Lord gleichzeitig für den herben Einkommensverlust, der mit seinem Abdanken einherging. Diesmal aber gab es kein altes Drachenauge, denn der Inhaber dieses Amtes war vor vielen Jahren gestorben und hatte seinen damals noch sehr jungen Lehrling Ido zurückgelassen, der seither allein dem Rattendrachen hatte dienen müssen. Wahrscheinlich würde also Lord Ido die Gaben bekommen. Kein Wunder, dass mein Meister schmerzlich dreinblickte.
Der Mann in Grün öffnete Bellids Tribut und musterte den Inhalt. Offenbar war er zufrieden, denn die Schachtel wurde geschlossen und von einem Wächter weggebracht. Die beiden Torbeamten verbeugten sich erneut und traten wieder in ihr Häuschen.
Unter dem gedämpften Jubel der Menge schritten Heuris Bellid und Dillon durch das Tor.
»Vorwärts«, befahl mein Meister.
Wir bezogen vor dem Portal der Zwölf Himmelstiere Stellung, das ich von jeher schöner als alle anderen Tore der Stadt gefunden hatte, anmutiger selbst als das riesige Tor der Höchsten Güte, den Eingang zum Kaiserpalast. Das Portal war kreisrund, und die zwölf Drachen waren ringsum in der Reihenfolge ihrer Regentschaft
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