Drachentochter
bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vor mir stand ein Reisekorb aus Stroh, bereits gepackt. Rilla musste das für mich getan haben. Falls ich erwählt wurde, würde mein Meister ihn mir zur Halle des Rattendrachen bringen lassen. Ich öffnete die Faust und betrachtete die Münze. Sie war nicht groß – vielleicht konnte ich sie in die weiche Unterseite meines Tuscheblocks drücken?
Was für eine dumme Idee! Falls ich scheiterte und fliehen musste, konnte ich nicht hierher zurückkehren, um meine Sachen abzuholen. Ich musste die Münze bei mir tragen. Ich betrachtete mein kostbares Seidengewand. Würde sie in den Beutel mit dem Tee passen? Aber Chart sagte immer, man solle zwei verbotene Dinge immer getrennt voneinander aufbewahren. Im Saum? Ich raffte das Gewand, drehte den Stoff um und untersuchte die feine Naht. Wenn ich sie an einer Stelle auftrennte, die von einem gestickten Drachenschwanz bedeckt war, konnte ich die Münze in den Saum schieben und niemand würde ihre Umrisse erkennen.
Ich fand mein Essmesser, trennte einen Stich auf und zog vorsichtig den Faden heraus, um ihn nicht zu zerreißen. In der Nähe läutete die Morgenglocke. Es war beinahe so weit. Mit zitternden Händen fummelte ich die Münze in den Saum. Würde man sie sehen? Ich glättete das Gewand, ließ es wieder fallen und begutachtete das Ergebnis. Das Gewicht der Münze zog den Stoff etwas nach unten, aber nicht so stark, als dass es auffallen würde. Ich hob das Brett im Kleiderschrank an und zog mein Nadelkissen aus dem Loch, das ich ins Holz geschnitzt hatte. Dolana, meine einzige Freundin in der Saline, hatte es mir gegeben, bevor sie am Husten gestorben war – ein kostbares Geschenk. Mit ungeschickten Fingern mühte ich mich lange, den Seidenfaden ins Nadelöhr einzufädeln, bevor es endlich klappte. Ich vernähte den Saum mit wenigen großen Stichen. Gerade als ich den Faden abgerissen hatte, erschien Irsa auf der Schwelle.
»Was machst du da?«, wollte sie wissen.
Ich ließ den Saum des Gewands fallen. »Ein loser Faden«, gab ich zurück und ballte die Faust um die Nadel. »Ist der Meister fertig?«
Irsa musterte mein Gewand misstrauisch. »Er sagt, du sollst in den Vorhof kommen.«
Mit Schwung warf ich mein Messer zurück in den Reisekorb. »Danke.«
Sie rührte sich nicht.
»Ich weiß, wo der Vorhof ist, Irsa.«
Sie verschränkte die Arme. »Dafür dass alle Hoffnung des Meisters auf dir ruht, bist du wirklich eine armselige Kreatur, Eon. Aber ich hoffe um deinet- und unsertwillen, dass du Erfolg haben wirst.«
Sie schniefte und ging. Ich wartete kurz ab und hörte zu, wie sich ihre Schritte entfernten, ehe ich die Nadel wieder ins Nadelkissen und das Kissen zurück in sein Versteck schob. Es fiel mir schwer, es zurückzulassen, doch ich konnte es nicht wagen, das Werkzeug einer Frau einzupacken. Irsa oder eine andere Magd würde, wenn ich das Haus erst verlassen hätte, zweifellos sofort den Reisekorb durchstöbern.
Die Bedeutung dieses Tages schien mich plötzlich zu erdrücken. Ich hatte keine Zeit, Charts Brot zu essen, doch das war unwichtig; ich war nicht mehr hungrig. Vielleicht würde die Ratte das Brot finden – ein weiteres Opfer für den Rattendrachen.
Ich ließ den Blick ein letztes Mal durchs Zimmer schweifen. Und plötzlich war mir klar, dass es wirklich das letzte Mal war. Sollte ich scheitern, würde ich fliehen. Diese Erkenntnis überkam mich wie ein Monsunregen. Ich drehte mich um und trat in den Hof hinaus. Die Küchenkatze zuckte mit den Ohren, als wüsste sie als Einzige, dass ich gerade eine Entscheidung getroffen hatte, die mein Leben verändern würde.
Mein Meister wartete bereits im Vorhof. Die Sänfte aus Holz und Korbgeflecht, die er bei offiziellen Reisen nutzte, stand auf den Hebesteinen. Ein gemieteter Trupp von vier Männern, deren breite Schultern mit Leder gepolstert waren, stand geduldig an den Tragestangen. Ihre neugierigen Blicke folgten mir, als ich an ihnen vorbeilief. Sie waren nicht die Einzigen, die mich beobachteten: Der gesamte Haushalt hatte sich an den Türen und Fenstern versammelt, um unserer Abreise beizuwohnen. Ich suchte nach einem freundlichen Gesicht; Chart war nicht da – so weit konnte er nicht kriechen –, doch Lon hob grüßend die Hand und zu meinem Erstaunen neigte auch Kuno den Kopf zu einer kurzen Verbeugung. Dann sah ich Rilla mit gesenktem Blick hinter meinem Meister stehen. Als ich herankam, sah sie kurz auf, und ihr rasches
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