Drachentochter
deshalb hat er Euch in seinen Palast bringen lassen«, sagte Lady Dela. »Sicher, gegenwärtig gibt es keine Spiegeldrachenhalle, aber Ihr hättet in eine der anderen Hallen ziehen können. Und wenn Ihr die Festhalle heute Abend in der Harmonierobe betretet, wird der Kaiser seinem Bruder und dem Drachenrat seine Absichten sehr deutlich gemacht haben.«
Ich schlug die Hand vor den Mund. Mein Meister hatte nicht damit gerechnet, dass ich im Mittelpunkt der höfischen Aufmerksamkeit stehen würde – ich hätte nur ein Lehrling sein sollen. Ryko kam herbei und legte mir die Hand auf die Schulter, als wollte er mich davon abhalten, die so irreführend benannte Robe zu nehmen und so weit weg wie möglich vor diesem tödlichen Machtkampf zu fliehen.
»Kopf hoch, Mylord«, sagte er bärbeißig. »Ihr könnt nirgendwohin. Ihr seid bis zum Ende in diesem Spiel gefangen.«
»Wisst Ihr, wo mein Meister ist?«, bedrängte ich ihn. »Ich muss meinen Meister sprechen.«
Er würde wissen, was zu tun war und wie ich zwischen diesen beiden mächtigen Kräften geschickt lavieren konnte.
»Heuris Brannon«, berichtigte mich Lady Dela freundlich, »ist in sein Haus zurückgekehrt, um sich für das Bankett umzuziehen.«
Eine bittere Erkenntnis durchfuhr mich. Von nun an würde mein Meister nicht ständig da sein, um mich zu beschützen und zu beraten.
»Das ist zu viel für mich, zu viel«, sagte ich. »Was soll ich nur tun?«
»Folgt Eurer Bestimmung«, erwiderte Ryko. »Wie wir alle. Mit Würde und Mut.«
Lady Dela verdrehte die Augen. »Ihr könnt den Jungen doch nicht mit so einer Antwort abspeisen!« Sie packte mich am Arm und ihre langen Fingernägel gruben sich durch die Seide. Ich spürte die männliche Kraft in ihrem Griff. »Hört mir zu. Ihr seid kein bettelarmer Anwärter mehr. Ihr seid ein Lord, das Spiegeldrachenauge. Überall am Hof redet man darüber, dass die übrigen Drachen sich vor Euch verneigt haben. Eure Macht ängstigt sogar Lord Ido. Also bedient Euch dieser Macht.«
Ich konnte meinen Drachen kaum spüren und mich erst recht nicht seiner Macht bedienen. Lord Ido hatte von mir nichts zu furchten. Doch selbst wenn er es wüsste, würde ihn das nicht aufhalten. Ich erinnerte mich an seinen Gesichtsausdruck, als die Drachen sich vor mir verneigten. Das war es, was er wollte: dass alle Drachen sich vor ihm verbeugten. Und ich war ihm dabei im Weg.
Ich zog meinen Arm aus Lady Delas Griff. Sie war ein Mann, der als Frau lebte – jemand, der immer auf die Füße fiel. Sie würde sich keiner hoffnungslosen Sache anschließen.
»Was meint Ihr, wer diesen Kampf gewinnen wird, Lady Dela?«, fragte ich. »Wem gehört Eure Treue?«
Sie richtete sich auf und musterte mich schweigend. Ich saß wie erstarrt, blinzelte noch nicht einmal.
»Ich stehe auf Seiten des Kaisers«, sagte sie schließlich.
»Und warum?«
»Weil Lord Ido und Großlord Sethon Menschen wie mich verachten.«
»Und weil der Kaiser der Himmlische Meister ist«, setzte Ryko mahnend hinzu.
Wir sahen ihn beide an.
»Nein«, sagte Lady Dela leise. »Weil der Himmlische Meister jetzt das mächtigste Drachenauge auf seiner Seite hat.«
8
Willkommen, Lord Eon«, sagte die Flüsterstimme des Kaisers über mir.
Er saß oben auf einer mehrstufigen Empore und ich sah seinen geschwollenen und bandagierten Fuß auf einem kleinen Hocker unter dem Banketttisch liegen. Daneben war ein gleicher Hocker vor einen leeren Stuhl gerückt worden, um an die Kaiserin zu erinnern, die vor fast einem Jahr gestorben war.
»Die Harmonierobe kleidet Euch gut«, sagte Seine Hoheit. »Erhebt Euch.«
Ich hob das Knie, schob den Fuß unter Schmerzen vor und nahm die kauernde Haltung ein, die Lady Dela mir gezeigt hatte. Ich wagte einen raschen Blick auf den Himmlischen Meister. Seine Schultern waren gebeugt, und seine bleiche, schlaffe Gesichtshaut erweckte den Eindruck, er sei noch vor Kurzem ein viel kräftigerer, energischerer Mann gewesen. Die riesige kaiserliche Perle, die sicher so groß wie ein Entenei war, füllte die Mulde unter seiner Kehle. Anders als Lady Delas schwarze Perle steckte das in Gold gefasste Schmuckstück nicht an einer durch den Hals gestochenen Nadel, sondern war in seine Haut genäht. Die Perle war Symbol seiner Weisheit und Machtvollkommenheit, versinnbildlichte seine Abstammung von den alten Drachen und würde erst bei seinem Tod entfernt und an die Kehle seines Erben genäht werden. Die Haut des Kaisers war über die goldene Fassung
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