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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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gelehrte Gedanken, aber da uns die männlichen Schriftzeichen verwehrt sind, können wir uns auf diesem Weg austauschen.« Sie hielt inne und sah auf die Schriftrolle. »Und von unserer Einsamkeit berichten.«
    Vor meinem inneren Auge tauchte das flüchtige Bild einer Frau auf, die mit einem Stock ein Schriftzeichen in den Sand malte und mir dabei den Arm um die Schulter gelegt hatte. Ob es sich dabei um meine Mutter handelte? Ich ließ die Erinnerung los und setzte mich auf. Ein Drachenauge würde mit Frauenschrift nichts zu tun haben wollen. Oder mit den Gedanken und Ängsten von Frauen.
    »Erzählt mir von Lord Chion«, sagte ich.
    Lady Dela schob die Schriftrolle in ihren Ärmel, ohne sich von meiner Schroffheit aus der Fassung bringen zu lassen.
    »Vor dem muss man sich in acht nehmen. Der Schlangendrache ist der Hüter der Einsicht, und es gibt niemanden, der scharfsinniger wäre als Lord Chion.«
    Ich warf einen kurzen Blick auf meinen Tischgenossen, doch alles, was ich von ihm zu sehen bekam, war eine schmale Hand, die eine Weinschale hielt. Sollte er Verstellung durchschauen können, täte ich gut daran, ihm auszuweichen.
    »Wem gehört seine Treue?«
    Sie neigte den Kopf Richtung Lord Ido.
    Der Nächste war Lord Dram, das Pferdedrachenauge. Lady Dela klappte ihren Fächer auf und wedelte sich mit übertriebener Geste Luft zu. Der Pferdedrache sei der Hüter der Leidenschaft, keuchte sie theatralisch, und Lord Dram nehme seine Aufgabe sehr ernst. Ich erhaschte einen Blick auf sein leuchtendes Gesicht, als er sich lachend zurücklehnte. Er besaß mehr Energie als die anderen, obwohl er nicht die Kraft von Lord Ido hatte. Er sei ein Anhänger des Kaisers, fügte Lady Dela hinzu, doch das nütze nicht viel, da die übrigen Drachenaugen ihn nicht achteten.
    Der nächste Gang wurde aufgetragen: auf vielerlei Weise zubereitetes Huhn mit Wildreis. Ich stocherte an meinen Hühnerfüßen im Teigmantel herum. Mein Magen war so voll, dass meine Übelkeit sich zu Bauchschmerzen gesteigert hatte. Auch Dillon hatte aufgehört zu essen, leerte aber weiter seine Weinschale, kaum dass sie gefüllt worden war.
    »Weißt du, dass ich nie zuvor Muscheln gegessen habe?«, fragte er mich. »Oder Hummer. Aber der Hummer hat mir nicht geschmeckt. Hat er dir etwa geschmeckt? Mir hat er jedenfalls nicht geschmeckt.« Er schaffte es kaum, mein Gesicht in den Blick zu fassen.
    »Es ist ziemlich reichhaltig.«
    Dillon nickte viel zu oft. »Reichhaltig – da sagst du was. Alles ist sehr reichhaltig.« Plötzlich kicherte er. »Und wir sind zwar nicht reichhaltig, aber reich.«
    Lady Dela tippte mir mit dem Fächer auf den Arm. »Da drüben – seht!«
    Vier Musiker waren auf Knien und fast bis zum Boden verneigt in die Mitte des Saals gerutscht. Ihnen folgte nun ein Trupp von zwölf Männern, deren Kostüme jeweils eines der Tierzeichen darstellten. Es handelte sich um die berühmten Drachentänzer, von denen ich gehört, die ich aber noch nie gesehen hatte, da sie nur im Palast auftraten. Der Tänzer, der das Rot des Spiegeldrachen trug, verbeugte sich vor mir, und sein reich geschmücktes Gewand strotzte von silbernen Perlen, die wie Schuppen an seine Robe genäht waren und in einer langen Schleppe ausliefen.
    Die ersten Töne der Flötenmusik erklangen und ließen die Gespräche verstummen. Dann begannen sich die Tänzer zu bewegen, wobei sie die Eigenschaften der von ihnen verkörperten Tiere nachahmten. Sie tanzten den Drachenkreis und setzten die heilige Pflicht jedes Drachenauges in Szene, das Land zu schützen und für das Wohlergehen seiner Bewohner zu sorgen. Ich schnappte nach Luft, als sie dünne silberfarbe ne Papierschlangen herabregnen ließen, Flüsse aus blauer Seide umlenkten und Stürme aus hauchdünnem Musselin besch wichtigten. Dann wirbelte und sprang ein Tänzer nach dem anderen allein durch den Saal und führte die von seinem Drachen verkörperte Tugend vor. Als der rot gekleidete Tänzer an der Reihe war, gesellte sich ein zweiter Tänzer im gleichen Kostüm zu ihm, und sie wirbelten und sprangen in völliger Harmonie, sodass einer als perfektes Spiegelbild des anderen erschien. Ihr Tanz gestaltete die Wahrheit. Mein Drache war der Hüter der Wahrheit. Diese Ironie ließ mich auf meinem Platz hin und her rücken.
    Nach der Vorstellung brach der Saal in Rufe und Klatschen aus. Die Zuschauer bewiesen den Tänzern ihre Wertschätzung, indem sie den Boden unter ihnen zum Beben brachten, und ich trampelte mit ihnen.

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