Drachentränen
selbst nicht atmen hören, doch dann merkte er, dass er freiwillig seinen Beitrag zu dieser übernatürlichen Stille leistete; er war einfach so benommen davon, wie sich die Welt verändert hatte, dass er die Luft anhielt.
Doch die Nacht war nicht nur aller Geräusche beraubt worden, sondern auch jeglicher Bewegung. Der Abschleppwagen und der Volvo waren nicht die einzigen Dinge, die absolut still standen. Die Bäume am Bordstein und die Sträucher vor dem Green House schienen in der Bewegung erstarrt zu sein. Die Blätter hatten nicht nur zu rascheln aufgehört, sondern sie bewegten sich überhaupt nicht mehr; sie hätten nicht regloser sein können, wenn sie aus Stein gehauen gewesen wären. Über den Fenstern des Green House hatten mit Bogenrand verzierte Segeltuchmarkisen im Wind geflattert, doch sie waren mitten im Flattern fest geworden; jetzt waren sie so steif, als ob sie aus Wellblech bestünden. Auf der anderen Straßenseite war der blinkende Pfeil an einem Neonschild auf AN stehen geblieben.
Connie sagte: »Harry?«
Er fuhr zusammen, wie er es bei jedem Geräusch mit Ausnahme des vertrauten, gedämpften Schiagens seines eigenen rasenden Herzens getan hätte.
Er sah seine eigene Verwirrung und Angst in ihrem Gesicht widergespiegelt.
Sie stellte sich neben ihn und sagte: »Was ist hier los?«
Ihre Stimme war abgesehen von einem untypischen Zittern ein wenig anders als vorher, etwas flacher im Tonfall und unwesentlich weniger moduliert.
»Ich hab’ keine blasse Ahnung«, sagte er.
Seine Summe klang ähnlich wie ihre, als ob sie aus einer mechanischen Vorrichtung stammte, die ziemlich raffiniert - aber nicht ganz perfekt - die Stimme jedes menschlichen Wesens wiedergeben konnte.
»Das muss er machen«, sagte sie.
Harry stimmte ihr zu. »Irgendwie.«
»Ticktack.«
»Yeah.«
»Scheiße, das ist verrückt.«
»Ganz meine Meinung.«
Sie griff bereits nach ihrem Revolver, doch dann ließ sie die Waffe wieder in das Schulterholster gleiten. Eine bedrohliche Stimmung machte sich breit, eine Atmosphäre angstvoller Erwartung. Doch zumindest im Augenblick gab es nichts, worauf man schießen musste.
»Wo ist das Arschloch?« fragte sie.
»Ich hab’ so das Gefühl, der taucht gleich auf.«
»Dafür gibt’s keine Punkte.« Sie deutete auf den Abschleppwagen hinten auf der Straße und sagte: »Um Gottes willen… sieh dir das an.«
Zuerst dachte er, Connie meinte nur die Tatsache, dass das Fahrzeug wie alles andere auf geheimnisvolle Weise stehen geblieben war, doch dann merkte er, welches Phänomen sie noch viel erstaunlicher fand. Die Luft war gerade so kalt, dass die Autoabgase (aber nicht ihr Atem) in der Luft blasse Kondenswolken bildeten; diese dünnen Nebelschleier hingen hinter dem Abschleppwagen unverrückbar in der Luft, lösten sich nicht auf und verdunsteten auch nicht, wie Dampf das normalerweise tut. Er sah einen weiteren, allerdings kaum erkennbaren grauweißen Schleier hinter dem Auspuffrohr des etwas weiter entfernten Volvos in der Luft hängen.
Nachdem er das registriert hatte, wurden plötzlich ähnlich erstaunliche Dinge überall sichtbar, und er wies sie darauf hin. Ein bisschen Müll - Kaugummi- und Bonbonpapiere, ein abgesplittertes Stück von einem Eis-am-Stiel-Stäbchen, trockene, braune Blätter und ein verheddertes Stück rotes Garn - war vom Wind hoch gewirbelt worden; und obwohl diese Dinge nun von keinem Luftzug mehr getragen wurden, schwebten sie immer noch in der Luft, als ob die sich plötzlich in reinstes Kristall verwandelt hätte und sie für immer reglos gefangen hielte. Zum Greifen nahe, nur etwa dreißig Zentimeter über seinem Kopf, hingen unbeweglich zwei Motten so weiß wie Schneeflocken, ihre Flügel sahen im Licht der Straßenlaterne weich aus und hatten den sanften Glanz von Perlen.
Connie klopfte auf ihre Armbanduhr, dann zeigte sie sie Harry. Es war eine traditionelle Umex mit rundem Zifferblatt und Zeigern, sie hatte nicht nur Stunden- und Minutenzeiger, sondern auch einen roten Sekundenzeiger. Sie war um 1:29 Uhr und sechzehn Sekunden stehen geblieben.
Harry kontrollierte seine eigene Uhr, die eine Digitalanzeige hatte. Sie zeigte ebenfalls 1:29, und der winzige blinkende Punkt, den sie anstelle eines Sekundenzeigers hatte, leuchtete ununterbrochen und zählte nicht mehr jedes Sechzigstel einer Minute ab.
»Die Zeit ist…« Connie war nicht in der Lage, den Satz zu beenden. Sie betrachtete verwundert die stille Straße, schluckte kräftig und fand
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