Drachentränen
wütend begonnen hatte, aufgebracht über etwas, über das sie nicht hatte reden wollen.
Da sich seine Hitzigkeit abkühlte, fragte er sich nun, ob es wirklich eine so gute Idee wäre, überhaupt ein romantisches Interesse an einer Kollegin zu haben. In der Abteilung war es gängige Praxis, Teams zu trennen, die außerhalb des Dienstes mehr als eine freundschaftliche Beziehung entwickelten, ob nun schwul oder heterosexuell. Und seit langem bestehende Praktiken beruhten normalerweise auf einer Fülle schlechter Erfahrungen.
Connie unterschrieb die letzten Formulare und musterte ihn kurz von oben bis unten. »Heute siehst du zum ersten Mal so aus, als könntest du in Erwägung ziehen, auch mal im Gap einzukaufen statt ausschließlich bei Brooks Brothers.« Dann umarmte sie ihn tatsächlich, was eigentlich seine Leidenschaft wieder hätte entflammen müssen, allerdings war es eine rein kameradschaftliche Umarmung. »Wie geht’s deinem Bauch?«
Nur ein dumpfer Schmerz, danke, nichts was mich daran hindern könnte, eine leidenschaftliche, heiße und schweißtreibende Nacht mit dir zu verbringen.
Er sagte: »Mir geht’s ganz gut.«
»Sicher?«
»Yeah.«
»Gott, bin ich müde.«
»Ich auch.«
»Ich glaub’, ich werd’ hundert Stunden schlafen.«
»Zumindest zehn.«
Sie lächelte und kniff ihn - zu seiner Verwunderung - zärtlich in die Backe. »Bis morgen früh, Harry.«
Er sah hinter ihr her, wie sie aus dem Büro hinausging. Sie trug immer noch stark abgelaufene Reeboks, Jeans, eine rotbraun karierte Bluse und eine braune Cordjacke - und die ganzen Sachen sahen nach den vergangenen zehn Stunden noch schlimmer aus. Dennoch hätte er sie nicht verführerischer finden können, wenn sie in ein eng anliegendes, mit Pailletten besetztes Kleid mit einem riesigen Dekollete gezwängt gewesen wäre.
Der Raum war trostlos ohne sie. Das Licht aus den Leuchtstoffröhren zeichnete harte, kalte Muster auf die Möbel und die Blätter der Pflanzen.
Hinter dem beschlagenen Fenster ging die frühe Dämmerung in Nacht über, doch der stürmische Tag war so düster gewesen, dass die Übergangsphase kaum erkennbar war. Der Regen hämmerte auf den Amboss der Dunkelheit.
Für Harry hatte sich der Kreis von physischer und psychischer Erschöpfung über leidenschaftliche Gedanken zurück zur Erschöpfung geschlossen. Es war fast so, als wäre er wieder ein Junge in der Pubertät.
Er schaltete den Computer ab, machte das Licht aus, schloss die Bürotür und hinterlegte Kopien der Berichte im Geschäftszimmer.
Während der Heimfahrt durch den deprimierenden bleiernen Regen hoffte er bei Gott, dass er schlafen könnte und dass sein Schlaf traumlos sein würde. Wenn er am Morgen ausgeruht aufwachte, würde sich das Geheimnis des Penners mit den purpurroten Augen vielleicht von selbst geklärt haben.
Auf halber Strecke nach Hause hätte er fast das Radio eingeschaltet, weil er Musik hören wollte. Doch bevor er die Knöpfe berührte, gebot er seiner Hand Einhalt. Er fürchtete, dass er statt einem Stück aus den Top-Forty die Stimme des Landstreichers beschwörend singen hören würde: ticktack, ticktack, ticktack…
Kapitel 14
Jennifer musste eingeschlafen sein. Es war jedoch ganz gewöhnlicher Schlaf, nicht der Wahnsinn der Fantasiewelten, die ihr so oft eine Zuflucht boten. Als sie aufwachte, musste sie keine hartnäckigen Visionen von Tempeln aus Smaragden, Diamanten und Saphiren abschütteln, auch keine jubelnden Zuschauer, die in einer Carnegie Hall ihrer Vorstellung von ihrer gesanglichen Virtuosität begeistert waren. Sie war verschwitzt aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und hatte einen sauren Geschmack im Mund - abgestandener Orangensaft und tiefer Schlaf.
Es regnete immer noch. Der Regen trommelte komplizierte Rhythmen auf das Dach des Krankenhauses. Eigentlich des Privatsanatoriums. Aber es waren nicht nur Rhythmen, sondern auch kichernde, glucksende und plätschernde atonale Melodien.
In ihrer Blindheit war es für Jennifer nicht einfach, mit Bestimmtheit zu wissen, welche Tages- oder Jahreszeit war. Doch da sie schon seit zwanzig Jahren blind war, hatte sie eine verfeinerte Wahrnehmung entwickelt und war in der Lage, die Jahres- und Tageszeit mit erstaunlicher Genauigkeit zu erraten.
Sie wusste, dass der Frühling bevorstand. Vielleicht war es März, das Ende der regnerischen Zeit in Südkalifornien. Sie wusste nicht den Wochentag, doch sie vermutete, dass es früher Abend war, zwischen sechs und acht
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