Drachentränen
Uhr.
Vielleicht hatte sie zu Abend gegessen, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte. Manchmal war sie gerade so weit bei Bewusstsein, um zu schlucken, wenn man sie mit dem Löffel fütterte, aber nicht klar genug, um zu genießen, was sie aß. Zu anderen Zeiten, wenn sie sich in einem tieferen katatonischen Zustand befand, wurde sie intravenös ernährt.
Obwohl das Zimmer in Schweigen gehüllt war, war sie sich einer anderen Existenz bewusst, entweder wegen einer undefinierbaren Besonderheit im Luftdruck, oder wegen eines Geruchs, den sie nur unterbewusst wahrnahm. Sie blieb regungslos, versuchte zu atmen, als ob sie fest schliefe, und wartete darauf, dass die unbekannte Person sich bewegte, hustete oder seufzte und ihr damit einen Hinweis auf ihre Identität gäbe.
Der Anwesende tat ihr den Gefallen nicht. Allmählich wuchs in Jennifer der Verdacht, dass sie mit ihm allein war.
Sie wusste, dass es am sichersten war zu tun, als ob sie schliefe.
Sie bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben.
Schließlich konnte sie die fortdauernde Ungewissheit nicht mehr ertragen. Sie sagte: »Margaret?«
Niemand antwortete.
Sie wusste, dass das Schweigen nicht echt war. Sie versuchte sich mit aller Gewalt an den Namen der Schwester, die die Spätschicht machte, zu erinnern. »Angelina?«
Keine Antwort. Nur der Regen.
Er quälte sie. Das war Psychoterror, und das war die bei weitem wirkungsvollste Waffe, die man gegen sie einsetzen konnte. Sie hatte so viel körperlichen und emotionalen Schmerz erfahren, dass sie gegen diese Formen der Misshandlung Verteidigungsmechanismen entwickelt hatte.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Ich bin’s«, sagte er.
Bryan. Ihr Bryan.
Seine Stimme war sanft und leise, sogar melodisch und in keiner Weise bedrohlich, dennoch ließ sie ihr Blut gefrieren.
Sie sagte: »Wo ist die Schwester?«
»Ich habe sie gebeten, uns allein zu lassen.«
»Was willst du?«
»Nur bei dir sein.«
»Warum?«
»Weil ich dich liebe.«
Er hörte sich aufrichtig an, doch sie wusste, das war er nicht. Er war von Geburt an unfähig, aufrichtig zu sein.
»Geh weg«, bat sie.
»Warum tust du mir weh?«
»Ich weiß, was du bist.«
»Was bin ich?«
Sie antwortete nicht.
Er sagte: »Wie kannst du wissen, was ich bin?«
»Wer sollte das besser wissen?« sagte sie schroff, von Bitterkeit, Selbsthass, Abscheu und Verzweiflung verzehrt.
Nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen, stand er nahe beim Fenster, näher am Plätschern und Trommeln des Regens als an den leisen Geräuschen aus dem Flur. Sie hatte Angst, dass er an ihr Bett kommen, ihre Hand nehmen oder über ihre Wange und Stirn streichen würde.
Sie sagte: »Ich will Angelina.«
»Noch nicht.«
»Bitte.«
»Nein.«
»Dann geh weg.«
»Warum tust du mir weh?« fragte er wieder. Seine Stimme blieb so sanft wie immer, melodisch wie die eines Chorknaben, ohne jedes Zeichen von Ärger und Enttäuschung, nur voller Traurigkeit. »Ich komme zweimal die Woche. Ich sitze bei dir. Was wäre ich ohne dich? Nichts. Das ist mir klar.«
Jennifer bis sich auf die Lippe und sagte nichts.
Plötzlich spürte sie, dass er sich bewegte. Sie konnte keine Schritte hören, kein Rascheln von Kleidungsstücken. Er konnte leiser sein als eine Katze, wenn er wollte.
Sie wusste, dass er sich dem Bett näherte.
Verzweifelt suchte sie Vergessen in ihren Wahnvorstellungen, in den leuchtenden Fantasien oder in den düsteren Schrecken ihres geschädigten Gehirns, ihr war egal wo, alles besser als das Grauen der Realität in diesem allzu privaten Sanatoriumszimmer. Doch sie konnte sich nicht willentlich in diese inneren Reiche zurückziehen; periodisch auftretende, unfreiwillige Bewusstheit war vielleicht der größte Fluch ihres erbärmlichen, geschwächten Zustands.
Sie wartete zitternd.
Sie lauschte.
Er war gespenstisch ruhig.
Das lärmende Trommeln des Regens auf dem Dach brach von einer Sekunde zur anderen ab, doch ihr war klar, dass der Regen nicht wirklich aufgehört hatte. Urplötzlich war die Welt von einer unheimlichen Stille umklammert, einer Bewegungslosigkeit.
Jennifer spürte die Angst in sich hochsteigen, selbst in den gelähmten Gliedmaßen auf der linken Seite.
Er ergriff ihre rechte Hand.
Sie keuchte und versuchte sie wegzuziehen.
»Nein«, sagte er und packte noch fester zu. Er war stark.
Sie rief nach der Schwester, obwohl sie wusste, dass das sinnlos war.
Er hielt sie mit einer Hand und liebkoste ihre Finger mit der anderen. Er massierte ihr
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