Drachenwächter - Die Prophezeiung
Drachen erschienen, war es, als wogte eine Welle aus flüssigem Gold über die Stadt. Mit leichten Flügelschlägen hielten sich die Drachen in der Luft und überquerten die Stadt. Sie schoben sich zwischen Mesala und die Sonne, und nur noch gelegentlich blitzte ein heller Strahl zwischen den Drachen hindurch – Klüch lag vollkommen im Schatten.
Mesala hatte den Kopf in den Nacken gelegt und bemerkte nicht, dass ihr Mund offen stand. Sie versuchte zu ermessen, wie groß ein einzelner Drache war, doch sie flogen zu weit über der Stadt, als dass sie einen von ihnen mit einem Gebäude vergleichen konnte.
Als Kind hatte sie fasziniert den Erzählungen über die Drachen gelauscht und sich vorgenommen, sie irgendwann einmal zu sehen. Nun waren alle Drachen von Derod direkt über ihr. Und Mesala wusste, dass nicht etwa Talut Bas dieses Land beherrschte. Derod war ein Drachenland. Wenn die Drachen wollten, konnten sie jetzt die Stadt zerstören und alle Einwohner töten, auch Talut Bas. Kein Heer hatte die Macht, sie aufzuhalten.
Doch die Drachen flogen weiter, ohne auch nur eine einzige Flamme auszustoßen.
Wie lange es dauerte, bis sie die Stadt überquert hatten, vermochte Mesala später nicht zu sagen. Ihr Blick folgte ihnen, wie sie auf das offene Meer hinausflogen. Unwillkürlich hatte sie sich auf dem Geländer der alten Steinbrücke abgestützt, als könnten ihre Beine sie nicht mehr tragen.
Da vernahm sie eine Stimme hinter sich: Folge uns.
Mesala wirbelte herum, und ihre Knie knickten ein – sie sank zu Boden. Niemand außer ihr befand sich auf der Brücke.
Folge uns.
Wieder hinter ihr. Sie zog sich am Geländer der Brücke hoch und stützte sich mit dem Unterarm darauf, schaute den kleiner werdenden Drachen hinterher.
Folge uns ...
Seld und die anderen Hequiser beobachteten die Drachen, bis diese hinter dem Horizont verschwunden waren.
Die Hequiser brachten ihre Wagen wieder die Klippe hinunter und schlugen abermals vor den Toren der Stadt ihr Lager auf. Nur wenige der Flüchtlinge, die weggerannt waren, kehrten nach Klüch zurück.
Die Soldaten des Herrschers kamen gesenkten Hauptes in die Stadt, und die Klücher traten aus ihren Häusern. Sie wirkten verwundert, ihre Stadt heil vorzufinden.
Eine betretene Stille hatte sich über die Stadt gesenkt, als könnte niemand fassen, noch am Leben zu sein. Erst in tiefer Dunkelheit begriffen die Klücher, was geschehen war.
Zum ersten Mal seit Menschengedenken war Derod ein Land ohne Drachen.
Nachdem die Nacht hereingebrochen war, hatten sich die meisten Flüchtlinge wieder auf dem Feld vor dem Südtor von Klüch ver- sammelt. Viele waren nicht mehr zurückgekehrt, sondern flohen weiter, wobei die meisten von ihnen nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Über das Feld verteilt waren Lagerfeuer entzündet worden, und die Menschen saßen beisammen und redeten über Drachen und Dämonen.
Seld, Ark und Quint hatten die Kolonne der Hequiser abseits am Fuß des bewaldeten Hügels ihr Lager aufschlagen lassen. Nun saßen sie um ein Feuer herum und ließen Teeblätter in heißes Wasser rieseln.
»Wie werden wir nun den Drachen folgen?«, fragte Quint.
Seld, den diese Frage erstaunte, nahm einen Schluck Tee zu sich. »Wir werden ein Schiff ausfindig machen müssen. Vielleicht sind wir nicht die Einzigen, die in der Nähe der Drachen bleiben wollen. Ansonsten müssen wir ein Schiff kaufen.«
»Es ist ein großes Wagnis, aufs offene Meer hinauszusegeln«, sagte Ark.
»Das Wagnis wäre größer, wenn wir in Klüch blieben«, gab Seld zurück.
»Ich muss dir beipflichten«, sagte Quint. »Die Dämonen werden dem Pfad der Drachen folgen.« Er erhob sich. »Ich gehe schlafen. Morgen früh werden wir nach einem Schiff Ausschau halten.«
Nachdem Quint gegangen war, sagte Seld an Ark gewandt: »Ich habe Alema gesehen. Oft waren es Trugbilder, die genauso schnell verschwanden, wie sie mich getäuscht hatten. Doch dies war Alema – ich bin mir sicher. Es war kein Trugbild, ich habe sie berührt. Sie erkannte mich nicht, ist davongerannt.«
»Es war sicher eine Frau, die Alema besonders ähnlich sah.« Arks Stimme klang, als sprach er zu einem Kind – oder einem Verrückten.
Seld schüttelte seinen Kopf. »Sie muss den Sturz in die Drachenhöhle überlebt haben, und irgendwie ist sie nach Klüch zurückgekehrt. Aber sie hat ihr Gedächtnis verloren ...«
Ark schüttelte den Kopf. »Es kann nicht sein ... Aber es gibt nur einen Weg, wie du herausfinden kannst,
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