Drachenwächter - Die Prophezeiung
herumgesprochen hatte. Sie musste nur verhindern, dass ihr Vater davon erfuhr.
Der Herrscherpalast war auf einem Hügel errichtet worden, und in diesen Hügel waren die Katakomben gegraben worden. Ursprünglich waren sie als Grabstätten der Herrscher und Adligen genutzt worden, doch Talut Bas hatte die Gebeine entfernen lassen, weitere Stollen und Zellen gegraben, wodurch ein Gefängnis entstanden war, das kein Gefangener bislang lebend verlassen hatte.
Mesala eilte den breiten Hauptgang hinab und zählte die Querstollen, dann bog sie in den fünften ein. Es waren Zellen auf der linken Seite eingelassen. Im schwachen Licht der Fackeln an den Wänden konnte sie kaum die Insassen erkennen. Sie trat an das Gitter der ersten Zelle und konnte den Umriss eines Mannes ausmachen, der an der hinteren Wand lehnte. »Seld?«, fragte sie leise.
Der Mann sprang nach vorne und prallte gegen das Gitter. Seine Arme hatte er ausgestreckt, und seine Finger fuhren durch die Luft, um Mesala zu packen. Der Mann hatte lange Haare, sein Gesicht verdreckt und voller Narben, und sein linkes Auge war nur eine leere Höhle. Zischende Geräusche fuhren aus seinem Mund, als er Mesala nicht erreichte.
Sie war sofort zurückgewichen, als der Mann vorgeschnellt war. Nun lehnte sie mit dem Rücken gegen die Wand und schob sich langsam weiter, bis sie gegenüber der nächsten Zelle stand. Darin sah sie einen Mann, der wimmernd am Gitter zusammengesunken war. »Die Drachen ... sie haben mich gerufen ... ich muss ihnen folgen.« In den Augen des Mannes, der wie sein Zellennachbar schon Jahrzehnte hier eingekerkert zu sein schien, stand ungezügelter Wahnsinn. »Ich antworte ihnen ... doch sie reden nicht mehr zu mir«, brabbelte er weiter. »Sie sind weg, ihre Stimmen, ich muss ihnen folgen ... wo sind sie?«
»Mesala!«, rief jetzt jemand von weiter hinten.
Ihr Blick folgte dem Gang, und sie entdeckte einen winkenden Arm. Es war Seld. Sie rannte den Gang entlang.
Seld wirkte müde, doch Mesala erkannte erleichtert, dass er nicht verletzt war. »Wie bist hier hineingekommen?«, fragte er.
Sie rüttelte an dem Gitter. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Eure Leute sind schon auf dem Schiff. Noch heute soll es auslaufen.«
»Du solltest bei ihnen sein. Es ist viel zu gefährlich, mich hier herausholen zu wollen.«
»Gefährlich ist es nur, wenn wir nicht bald verschwinden.«
»He!« Mesala fuhr herum. Vom Hauptgang näherte sich ein Mann, der dünn, aber drahtig wirkte. Er trug eine fleckige Kluft, an seinem Gürtel klimperte ein Schlüsselbund, und in der rechten Hand hielt er eine rostige Metallstange. »Niemand kommt in mein Gefängnis ohne meine Erlaubnis. Niemand!«
»Der Wärter«, flüsterte Seld. »Er hat den Zellenschlüssel.«
Ungläubig musterte der Gefängniswärter die Frau. Als er sich vor Mesala aufbaute, stieg der Geruch von Schweiß und Urin in ihre Nase. »Ich bin Mesala Cohm«, rief sie aus. »Der Herrscher schickt mich.«
Die Augen des Wärters fuhren an ihr herab und wieder hoch. Seld dachte, dass er wahrscheinlich noch nie eine Frau hier unten gesehen hatte – zumindest nicht auf dieser Seite der Gitter. »Warum sollte der Herrscher dich hierher geschickt haben?«
Seld nutzte die Unachtsamkeit des Wächters und warf sich nach vorne. Mit seinen Händen bekam er den Oberarm und den Hals des Wärters zu fassen. Kraftvoll zog er den Mann zu sich, so dass dessen Schläfe gegen das Gitter prallte. Doch dies schien ihm nichts auszumachen, denn mit einer schnellen Bewegung wand er sich aus Selds Griff und fuhr mit der Stange über die Gitterstäbe, wobei er Selds Hand streifte. »Verfluchter Hundesohn!«, rief er aus und hob die Stange, um abermals zuzuschlagen.
Mit einer schnellen Bewegung zog Mesala eine Fackel aus der Halterung und ließ sie auf den Kopf des Wächters niederfahren. Funken stoben auf, dem Wächter fiel die Metallstange aus der Hand, und er machte noch einen kleinen Schritt, bevor er vornüber fiel.
Mesala warf die Fackel zur Seite und ließ sich neben dem reglosen Mann auf die Knie nieder. Mit zitternden Händen löste sie den Schlüsselbund vom Gürtel und reichte ihn Seld. Beim vierten Versuch hatte Seld den richtigen Schlüssel erwischt, und mit einem Klicken sprang das Schloss auf. Seld öffnete das Gitter und trat in den Gang. Er packte Mesala an den Schultern und blickte in ihre Augen. »Danke.«
»Wir müssen uns beeilen«, meinte sie. »Die Soldaten werden es bald bemerken.«
Die beiden rannten
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