Drachenwege
betrübt. Sie streckte ihre Hand aus, und er sah, dass die Fingerspitzen mit winzigen Nadelstichen übersät waren. »Schau mal, wie meine Finger aussehen.
Das kommt davon, weil ich so viel mit dem Baby helfe.
Windeln wechseln, du weißt schon. Sie werden mit Nadeln zusammen gehalten. Meine Mutter sagt, alle würden es so machen. Ich bin mir da nicht so sicher ...«
»Doch, deine Mutter hat Recht«, bekräftigte Kindan.
»Bei Zenor habe ich die gleichen Nadelstiche gesehen -
als seine Schwestern noch klein waren. Die Windeln werden mit Sicherheitsnadeln befestigt, nicht wahr?«
Dabei fiel ihm etwas ein. »Sag mal, seit wann weiß Zenor über dich Bescheid?«
»Ach, er bekam es gleich in der ersten Siebenspanne heraus, gleich nachdem wir ins Camp einzogen«, erwiderte Nuella lächelnd. »Als er versuchte, sich vor Cristov in Sicherheit zu bringen, wollte er über einen Zaun klettern, und dabei fiel er herunter. Er verletzte sich ziemlich schwer.« Sie verzog das Gesicht. »Ich hörte ihn weinen. Ich konnte ihn doch nicht einfach liegen lassen, bis Cristov ihn fand und womöglich noch mit Fußtritten traktierte. Deshalb schleppte ich ihn in mein Zimmer und versorgte seine Schrammen und Prellun-
gen. Seitdem sind wir Freunde.«
Kindan setzte eine resolute Miene auf. »Nun ja, bei Zenor ist dein Geheimnis sicher, dafür verbürge ich mich. Ich bin sein bester Freund, und nicht einmal mir hat er etwas verraten.«
»Das ist schön«, entgegnete Nuella und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich finde, er wäre kein wahrer Freund, wenn er dir sämtliche Geheimnisse erzählen würde.«
»Na ja, ich weiß nicht...«
»Wahrscheinlich denkst du, er dürfte nichts vor dir verheimlichen, eben weil er dein Freund ist, hab ich Recht?«
Kindan runzelte die Stirn. »Eigentlich schon ...«
»Aber jetzt weißt du wenigstens mit Bestimmtheit, dass alles, was du ihm im Vertrauen erzählst, bei ihm gut aufgehoben ist. Nicht einmal mir würde er etwas sagen, wenn er dir Stillschweigen geschworen hat«, erklärte Nuella.
Kindans Miene erhellte sich, doch dann stutzte er.
»Moment mal! Du hast die Steine geworfen, als wir Dask gebadet haben! Du hast uns gewarnt. Aber woher wusstest du, wo wir waren und was wir vorhatten?«
»Keine Sorge, Zenor hat dich nicht verpetzt. Aber unsichtbar machen könnt ihr euch auch nicht.« Nuella kicherte. »Und vor allen Dingen wart ihr schrecklich laut. Ich kann zwar nicht sehen, aber von allen Leuten im Camp habe ich das beste Gehör. Und die empfind-lichste Nase.«
Als Kindan keine Antwort gab, fuhr Nuella fort: »Ich hörte, wie du dich mit Zenor unterhieltest. Ich verstand jedes Wort. Am liebsten hätte ich euch geholfen, aber ich war nicht dazu aufgefordert, und da keiner von mir wissen darf, konnte ich euch auch nicht fragen. Deshalb
...«
»Deshalb verstecktest du dich und hast uns be-lauscht«, beendete Kindan für sie den Satz. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bis ihm einfiel, dass sie ihn ja nicht zu sehen vermochte. Doch dann streckte sie die Hand aus und berührte mit den Fingern seine Lippen.
»Die Leute glauben, dass man es nicht hört, wenn jemand lächelt«, sagte sie, sanft den Schwung seines Mundes ertastend. »Vielleicht ist hören auch nicht der richtige Ausdruck, aber irgendwie spüre ich es, welche Miene jemand aufsetzt, wenn er mit mir spricht.« Sie zog ihre Hand zurück. »Ich hatte mir ausgemalt, du hättest ein angenehmes Lächeln. Und es stimmt.«
»Danke«, erwiderte Kindan verlegen. Unwillkürlich fasste er sich an den Mund. »Aber jetzt muss ich wirklich los, die Feier wird gleich beginnen. Mal sehen, wie wir dich daran teilnehmen lassen können.«
Zum Schluss plünderte er die Kleidertruhe des Harfners. Eine bunte Jacke und ein Hut veränderten Nuella so sehr, dass sie als ein Mitglied der Handelskarawane durchging. Und ein oberflächlicher Betrachter hätte sie gut und gern für einen der Bergwerkslehrlinge halten können. Auf ihr Drängen hin rieb Kindan ihr Gesicht mit einem Nussöl ein, damit der Teint dunkler wirkte.
»Bring auf alle Fälle ein paar Flöten mit«, ermahnte sie ihn, als sie zur Tür hinausgingen.
»Ich kann nicht Flöte spielen«, bedauerte Kindan.
»Aber ich kann es«, entgegnete sie mit verschmitz-tem Lächeln.
* * *
Sie trafen in der großen Festhalle ein, und als Erstes sahen sie Meister Zist und die Führerin der Handelskarawane, Tarri. Die beiden saßen an einem Tisch, vor sich einen Teller mit Millas
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