Drachenwege
herumzustöbern. Mit einer Pranke griff sie nach dem Vorhang und zerrte ihn hin und her, bis ein plötzlicher Lichteinfall von draußen sie erschreckte. Aus ihrer Kehle drang ein Zischen, und hastig drehte sie den Kopf mit den empfindlichen Augen zur Seite. Doch nach einer kurzen Weile kehrte sie zurück und steckte den Kopf unter den Vorhang. Es war Nacht, und nur die Sterne verbreiteten einen matten Schimmer.
Kindan sprang auf die Füße und hielt Kisk am Schwanz fest, damit sie nicht aus dem Schuppen ent-
wischte. Doch es kostete ihn einige Mühe, ihr ein be-helfsmäßiges Strickhalfter anzulegen, ehe sie ihren Willen durchsetzte und ins Freie kroch, den Jungen mit sich ziehend. Für ein Geschöpf, das Kindan nur bis zu den Knien reichte, besaß der Jungwher erstaunliche Kräfte.
»Langsam, langsam!«, keuchte Kindan, als Kisk ihn in Richtung des Seeufers zerrte. »Du möchtest ans Wasser, nicht wahr?« Er entsann sich, wie Zenor mit seiner kleinen Schwester sprach; unentwegt beschrieb er ihr, was sie sahen und was passierte. Also gab er einen Kommentar zu allem ab, was ihnen auf ihrem Weg zum See widerfuhr. Am Ufer angekommen, beschnüffelte Kisk ausgiebig das Wasser. Anfangs berührte sie mit der Zungenspitze vorsichtig das kühle Nass, doch dann fasste sie Mut und stillte mit gierigen Schlucken ihren Durst.
»Hast du das Wasser gerochen und wolltest zum See, weil du so durstig warst?«, fragte Kindan. Kisk blickte zu ihm auf, zwinkerte mit den großen Augen und antwortete mit einem Zwitschern, das der Junge nicht zu deuten vermochte.
»Was auch immer«, seufzte er. Jählings schwenkte Kisk den Kopf zur Seite, und der unerwartete Zug an dem provisorischen Halfter hätte Kindan um ein Haar zu Fall gebracht.
»Dort hinten liegen die Hütten der Bergarbeiter, Kisk, da hast du nichts zu suchen«, erklärte Kindan. »Jetzt schlafen die Leute und möchten nicht gestört werden.
Außerdem gibt es dort nichts, was dich interessieren könnte.«
Aber Kisks Augenmerk galt nicht den Quartieren; sie starrte unentwegt zu dem Wald hin, der gleich hinter den Hütten begann. Im schaukelnden Wiegegang zockelte sie los, Kindan hinterdrein. Am Waldrand angekommen, beschnupperte sie die Vegetation, zupfte Blätter von den Büschen, zermalmte sie zwischen den Kiefern und spie den grünen Brei wieder aus. Kindan wusste, dass in der Gegend keine giftigen Pflanzen wuchsen, also brauchte er sich um Kisks Wohlergehen keine Sorgen zu machen. Von Kisks unersättlicher Neugier getrieben, landeten sie zu guter Letzt wieder auf dem Pfad, der zu Tariks Haus führte - Kindans ehemaliges Elternhaus.
»Bist du jetzt müde genug, um dich schlafen zu legen?«, fragte er leise und in beschwörendem Ton. Kisks schielte zu ihm hinauf und antwortete mit einem mun-teren Zirpen, das Kindans Hoffnung im Keim erstickte.
In forschem Tempo steuerte sie Tariks Haus an, und Kindan durchlebte eine Anwandlung von Panik; er befürchtete, Tarik könnte von den ungewohnten Geräuschen wach werden, wenn jemand um das Haus pirschte, und seinen ganzen aufgestauten Groll über seine ungebetenen nächtlichen Gäste entladen.
Vielleicht übertrug sich seine Angst auf den Wher, denn Kisk reagierte auf einmal, als hätte sie seine besorgten Gedanken gelesen; sie stieß einen fragenden Laut aus, beschnüffelte Kindans Hosenbeine, wandte sich dem Haus zu und schnaubte durch die Nase. Gleich darauf wandte sie ihre Aufmerksamkeit einem anderen Ziel zu. Irgendetwas hinter den Büschen weckte ihr Interesse. Sie strebte zu der Stelle hin und begann wütend zu fauchen.
Erst da merkte Kindan, dass sie nicht allein waren.
»Sie beißt doch nicht, oder?«, tönte eine ängstliche Stimme aus dem Gesträuch. Es war Cristov.
»Nach mir hat sie schon geschnappt«, versetzte Kindan gereizt. Er log, weil er Cristov Angst machen wollte. Kisk starrte Kindan mit glänzenden Augen an und schniefte leise. »Sie hat mein Blut geleckt, aber das musste sein, um sie auf mich zu prägen.«
Vorsichtig zwängte sich Cristov aus dem Gesträuch hervor. »Ich finde, sie ist ziemlich klein. Hat sie scharfe Zähne?«
Kindan zeigte ihm seine bandagierte Hand. »Über-zeug dich selbst.«
Cristov wehrte ab. »Nein, der Verband sollte besser nicht abgenommen werden. Die Wunde muss doch verheilen.«
»Wie du willst«, gab Kindan zurück. Während des vergangenen Planetenumlaufs hatte er nur wenige Worte mit Cristov gewechselt; in der Zeit davor waren sich die beiden Jungen nach Möglichkeit
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