Drachenwege
Mädchen, die im Camp lebten. Ein blindes war nicht darunter. Vielleicht war ja ein Baby gemeint. Aber hätten ihre Drachen sie nicht über das Alter dieses Kindes aufklären können?
Möglicherweise hielt man das Mädchen irgendwo
versteckt - aber wo sollte man hier im Camp einen
Menschen verbergen? Am ehesten noch in der Mine.
Doch dann schüttelte sie den Kopf. Nein, das wäre zu gefährlich. Ein anderer Platz fiel ihr nicht ein, und sie kannte jeden Winkel im Camp. Angestrengt dachte sie nach. Hier gab es nur einen Ort, an dem sie noch nicht herumgestöbert hatte ... und das war die zweite Etage in Natalons Haus.
Den Rest ihrer Wache verbrachte Renna mit Grübeln.
Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht einmal mit Jori schimpfte, die eine gute halbe Stunde später angetrottet kam.
*
»Nuella, das ist Lord M'tal, der Weyrführer von Benden«, sagte Kindan, als die beiden Drachenreiter den Schuppen betraten. Mit einem fragenden Blick musterte er den zweiten Mann. »Mein Lord ...«
»Ich bin J'lantir, und mein Drache heißt Lolanth. Im Ista Weyr bekleide ich den Posten des Geschwaderführers«, stellte sich der neue Gast vor.
»Und du musst Kindan sein«, fuhr er freundlich fort und reichte dem Jungen die Hand. Kindan ergriff sie und drückte sie fest. J'lantir wandte sich um und streckte Nuella die Hand entgegen. Rasch trat Kindan an Nuellas Seite und versuchte, ihr möglichst unauffällig klar zu machen, was von ihr verlangt wurde. Doch er unterbrach seine verstohlenen Bemühungen, als er sah, dass J'lantir und M'tal einen beredten Blick tauschten.
Nuella schien jedoch zu spüren, was vor sich ging, und hob ihre Hand. J'lantir trat einen Schritt nach vorn und nahm sie in die seine.
»Ich bin Nuella«, sagte das Mädchen. Sie zog die Augenbrauen hoch und fragte: »Hast du dich gerade auf mich zu bewegt?«
»Ja, in der Tat«, erwiderte J'lantir. »Woher weißt du das?«
»So etwas fühle ich«, erklärte sie. Nun rückte sie dichter an J'lantir heran und ließ seine Hand los. »Darf ich dein Gesicht berühren?«, bat sie, wobei sie ihre Nervosität nicht verhehlen konnte. »Auf diese Weise lerne ich Menschen kennen.«
»Bitte sehr. Nur nicht schüchtern«, entgegnete J'lantir galant.
Zögernd hob Nuella die Hände. Mit den Fingerspitzen ertastete sie sein Kinn, erforschte den Schwung der Kiefer und zog die Wölbung des Mundes nach. Dann strich sie behutsam über seine Nase, die Augenbrauen und die Stirn.
»Du hast einen Sonnenbrand«, entfuhr es ihr. »In Ista scheint es noch sehr warm zu sein.«
»An bewölkten Tagen brennt die Sonne manchmal
besonders heiß«, räumte J'lantir ein. »Aber in diesem Fall verbrannte ich mir die Haut, weil ich hoch über den Wolken flog und der prallen Sonne ungeschützt ausgesetzt war. Bei uns in Ista hängen die Wolken mitunter sehr tief.«
»Du fliegst über den Wolken?«, staunte Nuella.
»Allerdings«, bekräftigte J'lantir.
M'tal trat an seine Seite. »Ich bin M'tal«, erklärte er höflich und streckte die Hand aus. Nuella ergriff sie, schüttelte sie, und bat um Erlaubnis, auch M'tals Gesicht abtasten zu dürfen.
»Gibt es im Benden Weyr einen guten Harfner, mein
Lord?«, erkundigte sie sich, als sie fertig war.
»Einen guten Harfner?«, wiederholte M'tal. »Doch,
ja, den haben wir. Warum fragst du?«
»Dein Gesicht verrät mir, dass du oft und gern
lachst«, erwiderte sie. »Ich dachte mir, ihr müsstet mit einem guten Harfner gesegnet sein, der für eine amüsante Unterhaltung sorgt.«
»Das stimmt haargenau«, sagte M'tal lachend. »Ich
werde ihm ausrichten, was du gesagt hast. Dieses Lob macht ihn bestimmt sehr glücklich.«
Nuella senkte den Kopf, doch sie konnte es nicht vertuschen, dass sie vor Freude errötete.
»Nuella«, äußerte J'lantir unvermittelt, »du hast eine höchst interessante Vermutung über Wachwhere ange-stellt. Du glaubst, dass sie in einer ganz besonderen Art und Weise ihre Umgebung wahrnehmen.«
»Ich denke, dass sie Wärme sehen können, mein
Lord«, erwiderte Nuella.
M'tal wandte sich an Kindan. »J'lantir wurde von seinem Weyrführer, C'rion, gebeten, möglichst viele Einzelheiten über Wachwhere zu erfahren. Ich hielt es für eine gute Idee, euch beide zusammen zu bringen, damit ihr euch austauscht und eure Erkenntnisse bündelt.«
Kindan nickte gespannt und sah den anderen Drachenreiter aufmerksam an.
»Wie könnte man diese Theorie testen?«, überlegte
J'lantir.
»Darüber habe ich
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