Drachenwege
Sie machte sich die Sache nicht leicht. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf, war beunruhigt und ging zur Sicherheit nachschauen, ob der Aussichtsposten besetzt war. Sie fand, die jüngeren Leute müsse man überprüfen. Und nicht selten ertappte sie jemanden, der im Gras lag und eingenickt war. Dann machte sie sich eine Freude daraus, sich an den Schläfer heranzupirschen und ihm laut ins Ohr zu schreien.
Meistens waren es die Knaben, und nicht die Mädchen, die während ihres Dienstes eindösten.
Zur Zeit befand sie sich allein auf der Anhöhe, denn Jori, die eigentlich den Posten besetzt halten sollte, trö-
delte über ihrem Abendessen. Das machte Renna jedoch nichts aus. Sie genoss es, spätabends beim Ausguck zu sein. In der stillen, klaren Luft drangen die Geräusche aus dem Tal bis hier herauf, und sie konnte beinahe jedes gesprochene Wort verstehen, weil es von den hohen Felswänden zurückgeworfen wurde. Unter ihr breitete sich der See aus und bot einen spektakulären Anblick; droben am Firmament funkelte ein Meer aus Sternen.
Als plötzlich zwei Drachen über dem See erschienen, sprang Renna vor Freude in die Luft. Es waren mächtige Tiere, so riesige Geschöpfe hatte Renna noch nie gesehen. Sie waren viel größer als Kisk, Kindans
Wachwher, und hübscher waren sie auch. In ehrfürchti-gem Staunen beobachtete sie die Drachen, die über die Siedlung schwebten und dann auf der Hügelflanke landeten, in der sich weiter oben der Eingang zur Mine befand.
Sie hörte, wie ein Mann fragte: »J'lantir, bist du dir auch ganz sicher?«
Die beiden Drachenreiter saßen ab. Ihre Reittiere erhoben sich wieder in die Luft, steuerten den See an und stürzten sich mit geradezu erschreckendem Enthusias-mus in die Fluten. Sie blieben so lange unter Wasser, dass Renna schon befürchtete, sie könnten ertrunken sein. Doch dann tauchten sie auf und dümpelten wie große hölzerne Flöße auf den Wellen. Renna fröstelte.
Die Nacht war kalt - Drachen mussten eine ziemlich dicke Haut haben, wenn sie bei diesen Temperaturen ins Wasser gingen. Aber vielleicht kamen sie auch aus einer Gegend mit einem tropischen Klima und genossen die Abkühlung.
»Lolanth spürte eine starke Präsenz«, antwortete der andere Reiter, J'lantir. »J'trel könnte uns Genaueres verraten, M'tal, aber ich tippe darauf, dass hier ein junges Mädchen wohnt, welches sogar einen goldenen Drachen für sich gewinnen könnte. Allerdings ...« Die Stimme klang zweifelnd und brach ab.
»Was ist? Sprich dich ruhig aus«, forderte der Reiter, der M'tal genannt wurde, seinen Kameraden auf.
»Nun ja, Lolanth teilt mir mit, dass dieses Mädchen in konstanter Dunkelheit lebt«, fuhr M'tal perplex fort.
»Ob das Mädchen gefangen gehalten wird? Schwebt
sie vielleicht in Gefahr?«
»Ich weiß es nicht. Lolanth glaubt, das Mädchen hat schon seit langer Zeit kein Licht mehr gesehen«, gab J'lantir zurück.
»Könnte es sein, dass sie blind ist?«
»Das könnte es sein«, pflichtete JTantir ihm bei. »Ein Jammer, wenn jemand ein so großes Talent zum Drachenreiter besitzt und nicht in der Lage ist, es zu nutzen.«
Die Stimmen wurden leiser, als die Männer auf den
Schuppen des Wachwhers zugingen.
»Dieses Camp gehört zu Telgar - aber D'gan lässt
nicht nach jungen Talenten suchen«, sagte M'tal nach einer Weile. »Ich finde, wir sollten unsere Entdeckung vorerst für uns behalten.«
»Du hast Recht«, erwiderte J'lantir.
»Ah, man erwartet uns bereits«, rief M'tal und lachte fröhlich. »Gaminth erzählt mir, dass Kisk neugierig auf Jolanth ist und gern nach draußen kommen möchte.«
»Tja, jedenfalls wissen wir jetzt, dass Kisk sich mit Drachen verständigen kann«, meinte J'lantir vergnügt.
»Ich habe Lolanth angewiesen, dem Wachwher zu antworten.«
Die beiden Drachenreiter zogen den Kopf ein und
traten durch die niedrige Stalltür. Von diesem Moment an konnte Renna sie nicht mehr hören. Sie achtete nicht auf die laut planschenden Geräusche, die die im See umhertollenden Drachen vollführten, sondern ging in Gedanken das Gespräch der Männer noch einmal durch.
Einen elektrisierenden Augenblick lang hatte sie gehofft, das Mädchen, von dem die Rede war, könnte sie selbst sein, und dass sie einen goldenen Drachen reiten könnte. Besaßen nicht die Drachenköniginnen eine goldene Haut? Das wäre herrlich, sinnierte Renna. Doch dann hörte sie die Vermutung, dieses Mädchen könnte blind sein. Im Geist erstellte Renna eine Liste aller
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