Drachenwege
eine große Kohlenhalde, die noch mit schmelzendem Schnee bedeckt war.
Bei warmem Wetter würde diese Kohle rasch trocknen, aber der Vorgang nahm mindestens drei Siebenspannen in Anspruch, und solange konnte keine Handelskarawane warten.
»Wie lange würde es dauern, genug Kohle zu fördern, um einen sechsten Karren zu füllen?«, wollte Kindan wissen.
Verblüfft hob Natalon die Augenbrauen, dann nickte er verstehend. »Hat Meister Zist dir gesagt, du sollst alle Möglichkeiten überdenken?«
Kindan zuckte die Achseln. »Vier Karren habe ich
mit Sicherheit gesehen ... aber natürlich könnten die Händler sechs Wagen für Kohle mitgebracht haben. Es kann nicht schaden, sich auf alles vorzubereiten, oder?«
»Nein, da gebe ich dir Recht«, pflichtete Natalon ihm bei und inspizierte die dicken Holzbalken, die den Stollen abstützten. »Allerdings«, fügte er mit einem ernsten Blick auf Kindan hinzu, »ist es immer am besten, wenn man sich nicht aufs Raten verlegt, sondern sich einen exakten Überblick verschafft.«
»Natürlich«, seufzte Kindan. »Wenn ich das nächste Mal Wache stehe und eine Karawane eintrifft, bleibe ich so lange am Ausguck, bis ich das Ende des Trecks
sehen kann.«
Natalon betrachtete den Jungen und bemerkte dessen schmale Lippen und die hängenden Schultern. Ihm war klar, dass Kindan seinen Fehler einsah und ihn nicht wiederholen würde.
»Das ist gut«, pflichtete der Steiger ihm bei. »Und wie sollen wir es jetzt anstellen, einen eventuell vor-handenen sechsten Karren zu füllen?« Nachdenklich
schürzte er die Lippen. »Wenn wir in drei Schichten arbeiten würden, könnten wir es in zwei bis drei Tagen schaffen.« Er seufzte. »Aber wir müssen uns mit zwei Schichten begnügen. Es gibt keinen Kumpel, der dazu ausgebildet ist, die dritte Schicht zu beaufsichtigen.«
»Wenn nur zwei Schichten gefahren werden, dauert
es halt vier Tage, um Kohle für den sechsten Wagen zu fördern«, rechnete Kindan aus. Natalon nickte zustimmend. »Und wieviel Zeit braucht man, um die Kohle in die Karren zu laden?«
»Normalerweise übernehmen die Arbeitsschichten
diese Aufgabe«, erklärte der Steiger. »Mit zehn Männern in zwei Schichten sind die Wagen in ein, zwei Tagen mit Kohle gefüllt.«
»Und wenn man eine dritte Schicht einführt, die sich ausschließlich um das Beladen der Wagen kümmert,
derweil die üblichen beiden Schichten weiterhin die Kohle abbauen, müsste der Vorgang in drei Tagen zu schaffen sein«, sinnierte Kindan.
Natalon dachte kurz nach und gab dem Jungen Recht.
»Das stimmt.«
»Dann müssen wir die Händler nur noch dazu überreden, drei anstatt der geplanten zwei Tage im Camp zu bleiben«, schlussfolgerte Kindan.
Natalon schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob uns das gelingt. Händler machen keinen Profit, indem sie zu lange an einem Ort verweilen. Es ist sehr gut möglich, dass sie sich zum Weiterziehen entschlie-
ßen und ihre Kohle woanders einkaufen.«
»Aber dadurch würden sie auch Zeit verlieren.« Kindan furchte angestrengt die Stirn. »Ich werde Meister Zist fragen, ob er eine Idee hat, wie man das Problem lösen könnte. Er beschäftigt sich gern mit kniffligen Fragen, für ihn stellen sie eine Herausforderung dar.«
Natalon schmunzelte. »Du erwähnst schon zum zweiten Mal, dass unser Harfner eine Herausforderung liebt.
Behauptet er das von sich selbst, und du übernimmst seine Formulierung?«
»Ja«, räumte Kindan ein und verbiss sich ein Grinsen.
Mittlerweile waren sie am Förderkorb angekommen.
»Überlass nur alles Weitere Meister Zist. Denk daran, wie er bei der Geburt eures Kindes geholfen hat. Ich bin sicher, dass er auch die Situation mit den Händlern in den Griff kriegt.«
Über den Vergleich musste Natalon laut lachen. »Na schön, Kindan, du darfst Meister Zist ausrichten, dass ich mich wieder einmal voll und ganz auf seine be-währte Tüchtigkeit verlasse.«
»Ich werd's ihm sagen«, versprach Kindan und zog an dem Strick, um das Zeichen zu geben, dass er nach oben wollte.
*
Meister Zist lobte Kindan für seine Vorschläge, wie man die anstehenden Probleme lösen sollte; doch er war alles andere als begeistert, dass er von nun an als Natalons Vertreter fungieren sollte. Immerhin hatte Kindan es so gedeichselt, dass der Obersteiger ihm sämtliche Arbeiten aufhalste, die durch die Ankunft der Karawane anfielen.
»Tja«, überlegte er, als er die Nachrichten verdaut hatte, »wenn ich hier den Hausherrn spielen soll,
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