Drachenwege
Campbewohnern versteckt halten will - aus
Gründen, die ich dir nicht erklären darf -, musstest du zu einer Täuschung greifen.«
»Wenn Geheimnisse etwas Schlechtes sind, warum
üben sich dann so viele Leute in Heimlichtuerei?«, fragte Kindan.
»Manchmal ist ein Geheimnis das Einzige, was
einem Menschen ganz allein gehört«, antwortete Meister Zist und seufzte.
»Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Geschichte mit Nuella noch lange geheim bleiben
wird«, gab Kindan zu bedenken. »Zenor und ich wissen, dass es sie gibt, und wir wohnen noch nicht mal ein ganzes Jahr in diesem Camp.«
Der Harfner nickte. »Genau das habe ich Natalon
auch gesagt. Aber er hat seine Gründe, Nuella zu verstecken.«
»Weil sie ein Mädchen ist, oder weil sie blind ist?«, wollte Kindan wissen. Seit dem Tag, als er Natalon und seine Familie vor dem Tod durch Ersticken gerettet hatte, wusste er, dass Nuella nicht sehen konnte. Doch er war sich nicht sicher, ob Natalon sie deshalb vor der Öffentlichkeit verbarg.
Der Harfner schmunzelte. »Das hast du geschickt an-gestellt, Kindan. Du stellst mir eine Fangfrage, in der Hoffnung, ich würde das Geheimnis verraten. Aber so schnell führst du mich nicht aufs Glatteis, dazu bin ich viel zu lange als Harfner tätig.«
Nach einer kleinen Pause sprach er weiter. »Du musst ein guter Beobachter sein, wenn du Nuellas Zustand so schnell erkannt hast. Doch du weißt sicher auch, dass du als mein Lehrling zu Stillschweigen verpflichtet bist.«
»Ich hätte es schon viel früher bemerkt, wenn ich
Nuella in einer anderen Situation begegnet wäre«, gab Kindan zu. »Da ich sie zum ersten Mal traf, als die Händler hier waren, nahm ich an, sie gehörte zu ihnen.«
Meister Zist nickte und fuhr dann mit seiner Belehrung fort. »Wir sprachen über Geheimnisse. In einem Camp wie diesem kennt jeder jeden, und die Besitztü-
mer der einzelnen Menschen unterscheiden sich nicht sehr voneinander. Gewiss, in manchen Familien gibt es Erbstücke oder ein paar besondere Gegenstände, aber grundsätzlich hat einer nicht mehr als der andere. Vielleicht liegt es daran, dass manche Leute ihre ganz privaten Geheimnisse hüten wie einen kostbaren Schatz.
Oder sie möchten irgend etwas geheim halten, weil sie die Reaktion ihrer Mitmenschen fürchten, falls es herauskäme.«
Meister Zist deutete ein Lächeln an und fügte in
komplizenhaftem Ton hinzu: »In den meisten Fällen interessiert sich die Umwelt kein bisschen für die Geheimnisse anderer Leute. Doch wie ich schon sagte, wenn jemand sonst nichts sein Eigen nennt, dann fühlt er sich als etwas Besonders, wenn er Heimlichkeiten hat. Deshalb ist es die Pflicht eines Harfners, die Geheimnisse anderer Leute zu respektieren.« Kindan entging nicht, welchen Nachdruck Meister Zist auf das Wort »Pflicht« legte.
»Und wann ist ein Geheimnis etwas Schlechtes?«
»Heimlichtuerei ist schlecht, wenn man dadurch
jemandem Schaden zufügt oder verschweigt, dass ein Mensch leidet«, erklärte der Meister. »Ein Harfner muss unverzüglich eingreifen, wenn er erfährt, dass ein Geheimnis dazu benutzt wird, jemandem zu schaden.«
»Was für ein Geheimnis könnte das wohl sein?«, sinnierte Kindan und ging in Gedanken die kurze Liste mit allen Geheimnissen durch, die er sich vorstellen konnte.
Meister Zist setzte eine säuerliche Miene auf. »Ich kannte einmal einen Mann, einen ziemlich brutalen
Kerl, der die Kontrolle über sich verlor, wenn er zu viel Wein getrunken hatte. Dann verprügelte er seine Kinder.« Er kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Das ist ein Geheimnis, das man lüften muss.
Um andere Menschen zu schützen.«
Kindan schauderte bei der bloßen Vorstellung. »Also ist ein Geheimnis dann böse, wenn es dazu dient, jemanden ungestraft piesacken zu können.«
Meister Zist pflichtete ihm bei. »So kann man es ausdrücken.« Dann trank er den Rest Klah aus, an dem er genippt hatte, stand auf und bedeutete Kindan, ihm zu folgen. »Später unterhalten wir uns weiter über dieses Thema. Aber jetzt gibt es jede Menge Arbeit für uns.«
*
Tatsächlich führte die Handelskarawane sechs Wagen für Kohle mit sich. Sämtliche Frauen und Kinder des Camps liefen herbei, um die Händler zu begrüßen.
»Ihr seid die ersten neuen Gesichter, die wir seit sechs Monaten sehen!«, freute sich Milla und reichte Gebäck herum, das sie eigens für die Ankunft der
Händler gebacken hatte.
»Ich heiße Tarri«, sagte eine Frau von
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