Drachenwege
während Natalon sich ausruht und Tarik die Schicht beauf-sichtigt, dann musst du halt die Rolle des Harfners übernehmen, Kindan.« Den entsetzten Gesichtsausdruck des Jungen ignorierend, fuhr er munter fort: »Ich gehe davon aus, dass Swanee sämtliche Warenlisten komplett hat und alles über Preise und Kalkulationen weiß, aber er ist ein absolut ehrlicher Mann, und aus diesem Grunde nicht unbedingt geeignet, um mit Kaufleuten zu verhandeln.«
Kindan bekräftigte, dass auch er sich für Swanees
Ehrlichkeit verbürgte. »Siehst du«, hakte Meister Zist nach. »Da haben wir's. Auch Händler sind redliche
Leute - aber auf ihre eigene Art. Wenn du sie bezahlst, geben sie dir ihre Waren, aber sie nennen dir nicht immer einen fairen Preis. Also muss man sich aufs Feilschen verstehen. Händler lieben das Feilschen.«
Meister Zists Augen leuchteten, und Kindan gewann
den Eindruck, dass auch der Harfner eine Vorliebe für Verhandlungen dieser Art hegte.
»Wer einen Preis herunterhandeln will«, erläuterte Meister Zist, »sollte auf jeden Fall wortgewandt sein.
Jeder Harfner vermag sich gut auszudrücken, der Umgang mit Sprache gehört nun mal zu seinem Beruf.«
Mahnend hob er den Zeigefinger. »Obwohl kein Händler jemals zugeben würde, dass ein Harfner ihn im Feilschen übertreffen könnte.«
»Aus diesem Grund«, schloss er seine Belehrung,
»werde ich mit den Händler reden, und du sorgst für die musikalische Unterhaltung.«
»Aber ich beherrsche doch nur ein einziges Instrument - und das ist die Trommel«, protestierte Kindan.
Meister Zist schnaubte durch die Nase. »Und was
hast du auf der Hochzeit deiner Schwester getan?«
»Ich dachte, ich sei eine Verlegenheitslösung. Eigentlich wolltest du doch gar nicht, dass ich singe.«
»Was ich will oder nicht will, tut hier nichts zur Sache«, winkte der Harfner ab. »Wenn ich dir sage, du bist für dieses oder jenes zuständig, dann hast du zu gehorchen. Und keine Widerrede bitte.«
»Ich verstehe.« Kindan zog die Stirn kraus.
»Was hast du sonst noch auf dem Herzen?«, erkundigte sich der Harfner.
»Nun ja ...«, sagte Kindan gedehnt, während er sich seine Worte gut überlegte. »Man hat mir beigebracht, niemals zu lügen. Aber wie es scheint, habe ich in letzter Zeit eine Menge Lügen erzählt. Und offenbar haben Lügen wirklich kurze Beine, denn sie holen mich immer wieder ein.«
Meister Zist nickte verstehend. »Wann hast du ge—
logen?«
»Tja, ich sagte Steiger Natalon, du hättest ausdrücklich darum gebeten, das Fest heute Abend vorbereiten zu dürfen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, dann schickte ich
dich los, um alles Erforderliche in die Wege zu leiten«, entgegnete der Harfner. Kindan blickte ihn gespannt an.
»Und was immer du mit Natalon besprochen hast, es
diente dazu, die Feier zu organisieren. Du hast dich lediglich verhalten wie ein guter Famulus.«
»Was ist ein Famulus?«, erkundigte sich Kindan, der den Begriff noch nie gehört hatte.
»Ein Assistent, ein Gehilfe. Zum Beispiel ist Swanee zuständig für das Vorratslager, aber er arbeitet für Natalon. Ein Schichtleiter ist die Hilfskraft des Obersteigers. Unter einem Famulus versteht man jemanden, der von seinem Vorgesetzten eine Aufgabe übertragen bekommt, und sich gelegentlich auf dessen Autorität beruft, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.«
Meister Zist dachte kurz nach und fuhr fort: »Hättest du zu Natalon gesagt, ich würde ihn darum bitten, einen Kuchen zu backen, wäre das eine glatte Lüge gewesen, denn du hättest deine Befugnis missbraucht. Ein Famulus bewegt sich entlang einer feinen Linie, die die Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit markiert.
Manchmal muss er raten, was sein Vorgesetzter will, und das ist nicht immer einfach.« Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und furchte drohend die Stirn über den buschigen Augenbrauen. »Mein Gehilfe sollte sich davor hüten, meine Wünsche falsch zu inter-pretieren.«
Kindan atmete erleichtert auf. »Und wie war das, als Jenella ihr Baby bekam? Du hast mich nicht darum
gebeten, für Nuellas Anwesenheit zu sorgen, und wir haben Margit und Milla getäuscht. Wenn das keine
Lüge ist, dann haben wir die Wahrheit aber gewaltig gebeugt.«
»Hier lagen die Dinge anders«, erläuterte Meister
Zist. »Im Übrigen hast du deine Sache sehr gut gemacht. Lügen und Geheimnisse sind eng miteinander
verwandt, Kindan. Geheimnisse ziehen oftmals die
Unwahrheit nach sich. Weil Natalon Nuella vor den anderen
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