Drachenwege
ihm etwas nicht stimmte, wenn seine Kinder blind sind. Sie könnten ihm ihr Vertrauen entziehen. Und es könnte Dalors Heiratschancen mindern.« Mit erstickter Stimme fügte sie hinzu: »Dass ich je einen Mann finden werde,
schließt er praktisch aus.«
»Und um diese Komplikationen zu vermeiden, musst
du dich verstecken?«, sinnierte Kindan. Nuella nickte.
»Auf Dauer wird das aber nicht gehen«, meinte Kindan.
»Meister Zist weiß über dich Bescheid, ich kenne dich und Zenor kennt dich ebenfalls. Es grenzt an ein
Wunder, dass neulich nicht noch mehr Leute von deiner Existenz erfahren haben.«
Nuella schnaubte verächtlich durch die Nase. »Viele Menschen mit zwei gesunden Augen sehen nur das, was sie sehen wollen«, erwiderte sie. »Meistens trage ich die gleiche Kleidung wie Dalor. Einmal rauschte Milla direkt an mir vorbei, ohne etwas zu merken.«
»Man stelle sich vor, welchen Tratsch sie über dich verbreiten würde, wenn sie hinter euer Geheimnis
käme«, wandte Kindan ein.
»Ihr Mund würde gar nicht mehr still stehen«, pflichtete Nuella ihm mit einem bitteren Unterton bei. »Und Onkel Tarik würde durchs ganze Camp laufen und die Neuigkeit verbreiten. Ich höre ihn förmlich, wie er sagt: >Was ist das für ein Bergmann, der nicht mal gesunde Kinder zeugen kann?<«
Kindan dachte sorgfältig über das Gesagte nach. Er traute es Tarik zu, solche gehässigen Äußerungen von sich zu geben, und einige Campbewohner würden sich sicherlich von ihm beeinflussen lassen. Bei seinen Spießgesellen, den Kerlen, mit denen er in seiner Freizeit zusammengluckte, fände Tarik gewiss ein
offenes Ohr. Und die würden schon dafür sorgen, dass die bösen Bemerkungen weitergetragen würden. Ginge dann etwas schief, käme es zu irgendeinem Unglück, konnten die Leute anfangen, die Verleumdungen zu glauben. Die schlichteren Gemüter würden den Schluss ziehen, dass ein Mann, der eine blinde Tochter gezeugt hatte, selber einen Makel aufweisen musste.
»Trotzdem wird man euer wohlgehütetes Geheimnis
eines Tages aufdecken«, beharrte Kindan.
Nuella nickte. »Das erzähle ich meinem Vater, seit wir hier ankamen. Und ich möchte zu gern unter Leute gehen. Aber er hält mir entgegen, ich müsste den richtigen Zeitpunkt abwarten. Er hegte so hohe Hoffnungen -
vor dem schrecklichen Grubenunglück ...«
Kindans Kehle schnürte sich zusammen, als er sich
erinnerte, wie das Unglück auch ihn getroffen hatte.
Normalerweise lud Meister Zist ihm so viel Arbeit auf, dass er gar nicht dazu kam, an seine Familie zu denken.
Nur des Nachts kamen die Erinnerungen zurück -in
seinen Albträumen.
»Heute Abend findet ein Fest statt«, sagte Kindan.
»In eurem Haus. Ich muss mich jetzt fertigmachen, weil ich daran teilnehme.«
»Wenn ich hier bleibe, kriege ich nichts mit«, meinte Nuella betrübt. Sie streckte ihre Hand aus, und er sah, dass die Fingerspitzen mit winzigen Nadelstichen übersät waren. »Schau mal, wie meine Finger aussehen.
Das kommt davon, weil ich so viel mit dem Baby helfe.
Windeln wechseln, du weißt schon. Sie werden mit
Nadeln zusammen gehalten. Meine Mutter sagt, alle
würden es so machen. Ich bin mir da nicht so sicher ...«
»Doch, deine Mutter hat Recht«, bekräftigte Kindan.
»Bei Zenor habe ich die gleichen Nadelstiche gesehen -
als seine Schwestern noch klein waren. Die Windeln werden mit Sicherheitsnadeln befestigt, nicht wahr?«
Dabei fiel ihm etwas ein. »Sag mal, seit wann weiß Zenor über dich Bescheid?«
»Ach, er bekam es gleich in der ersten Siebenspanne heraus, gleich nachdem wir ins Camp einzogen«, erwiderte Nuella lächelnd. »Als er versuchte, sich vor Cristov in Sicherheit zu bringen, wollte er über einen Zaun klettern, und dabei fiel er herunter. Er verletzte sich ziemlich schwer.« Sie verzog das Gesicht. »Ich hörte ihn weinen. Ich konnte ihn doch nicht einfach liegen lassen, bis Cristov ihn fand und womöglich noch mit Fußtritten traktierte. Deshalb schleppte ich ihn in mein Zimmer und versorgte seine Schrammen und Prellun-gen. Seitdem sind wir Freunde.«
Kindan setzte eine resolute Miene auf. »Nun ja, bei Zenor ist dein Geheimnis sicher, dafür verbürge ich mich. Ich bin sein bester Freund, und nicht einmal mir hat er etwas verraten.«
»Das ist schön«, entgegnete Nuella und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich finde, er wäre kein wahrer Freund, wenn er dir sämtliche Geheimnisse er-zählen würde.«
»Na ja, ich weiß
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