Drachenwege
selten hatte er einen Abend ganz für sich allein. Seit er und Zenor in unterschiedlichen Welten lebten, gab es für sie keine gemeinsamen Berührungspunkte mehr, über die sie sich hätten unterhalten können.
Mit Nuella wiederum sprach Kindan immer öfter.
Meister Zist hatte ihr erlaubt, gelegentlich am Musik-unterricht teilzunehmen, und diese Stunden verliefen zumeist sehr erquicklich. Entweder sie musizierten gemeinsam, oder einer spielte ein Instrument und die anderen hörten zu. Hinter vorgehaltener Hand hatte Meister Zist Kindan anvertraut, Nuellas Stimme sei »passabel«, also würde aus ihr nie eine große Sängerin, doch das hielt niemanden davon ab, ihre Gesangsdar-bietungen zu genießen.
Allmählich fand Kindan immer mehr Geschmack
daran, nur mit Meister Zist zusammen zu musizieren.
Ihre Stimmen passten wunderbar zueinander, und dem Harfner bereitete es große Freude, mit seinem Schüler Duette einzustudieren. Sofern er die Zeit fand, schrieb er sogar neue Stücke, die eigens auf ihn und Kindan zugeschnitten waren.
Der Frühling ging in den Sommer über, und dann
nahte der Herbst. Kindan fühlte sich so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Kapitel 6
Kohle, schwarzer Diamant,
Bringt Licht und Wärme in das Land.
Geborgen aus der Erde Schoß,
Erleichtert sie des Menschen Los.
Bald stellte es sich heraus, dass Steiger Natalon trotz aller Gefahren, die im Bergwerk lauerten, auf ein mächtiges Kohleflöz gestoßen war. Angeblich hatte
selbst der Bergwerksmeister über dieses reiche Vorkommen gestaunt. Trotzdem bedurfte es mehr als lo—bender Worte, damit Camp Natalon zur regulären Zeche erklärt wurde, mit einer dauerhaften Eintragung in die Listen der Bergwerkszunft. Wenn dies geschah, dann wäre Natalon der offizielle Leiter dieser Grube mit allen damit verbundenen Ehren und Privilegien.
Doch Grubenunfälle führten immer wieder zu Rück—
schlägen in der Arbeit. »Ohne einen Wachwher wissen wir nicht, wo Gefahren lauern«, klagten die Kumpel, wenn Natalon in Hörweite war.
Aber der Steiger brauchte die Beschwerden seiner
Leute gar nicht zu hören - er wusste selbst, wo das Problem lag. Auch wenn Tarik die Verwendung eines Wachwhers strikt ablehnte, Camp Natalon musste unbedingt dafür sorgen, dass Dask einen Nachfolger erhielt.
Natalon hatte sich bereits mit dem Bergwerksmeister beraten, der ihm versicherte, sich bei dem Burgherrn von Crom für die Belange des Camps einzusetzen.
Camp Natalon sollte auf die Liste der Gruben gesetzt werden, die einen Wachwher anforderten. Doch diese Liste war lang, und Camp Natalon stand vorläufig an letzter Stelle.
Bemerkenswerterweise war es Meister Zist, der ihm
die neueste Nachricht zutrug. Oder besser gesagt, er erfuhr es durch den Trommelcode und durch Kindan.
Der Junge hatte tagelang damit zugebracht, die Trommelsprache zu üben. Zist hatte ihm die anderen Jungen unterstellt, die dem Camp als Trommler dienen sollten, und aus diesem Grund befand sich Kindan auf dem hoch gelegenen Horchposten, als die Botschaft eintraf.
Es handelte sich um eine sonderbare Nachricht, die er zwar in Normalschrift übertragen konnte, inhaltlich jedoch nicht verstand.
Kindan eilte mit dem Text zu Meister Zist, der gerade den Schulunterricht beendet hatte. Aleesa ist mit dem Tausch einverstanden, lautete die Nachricht.
Zist las sie, bedachte Kindan mit einem unergründlichen Blick und stellte dann fest: »Nun, damit muss ich sofort zu Natalon.«
Der Harfner machte sich auf den Weg, und Kindan
folgte ihm. Einmal drehte sich Meister Zist zu dem Jungen um, sah ihn nachdenklich an und marschierte weiter.
Natalon stand vor dem Eingang zur Grube und unterhielt sich mit dem Vorarbeiter der Schicht. Als er bemerkte, dass sich zwei Personen näherten, hob er den Kopf und blickte ihnen entgegen. Als er Kindan erkannte, furchte er fragend die Stirn.
»Die Nachricht betrifft den Jungen«, erklärte der
Harfner, der Natalons Gedanken zu erraten schien.
Ohne ein weiteres Wort gab er dem Steiger den Zettel mit der Nachricht.
»Hm«, brummte Natalon und überflog den Text. »Sie
will also tauschen ... vermutlich möchte sie nicht länger frieren.« Er legte den Kopf in den Nacken und spähte zum verhangenen Himmel empor. »Und der nächste Winter wird bitterkalt, soviel steht fest.«
»Du bist dir doch darüber im Klaren, dass sie zwar tauschen will, aber nicht für den Erfolg garantiert«, gab der Harfner mit einem eigenartigen Unterton zu bedenken,
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