Drachenwege
ernster Miene an. »Natalon ist der Meinung - und in diesem Punkt gebe ich ihm unbedingt Recht -, dass die Grube geschlossen werden muss, wenn wir nicht bald einen Wachwher bekommen.«
Kindan holte tief Luft, kniff fest die Lippen zusammen und senkte den Blick. Er vermochte dem Harfner nicht länger in die Augen zu sehen. Dann fasste er sich soweit, dass er zustimmend nicken konnte.
*
Das Leuchtfeuer wurde entzündet, und zwei Tage
lang flatterte die Signalfahne am Mast, ehe eine
Antwort eintraf. Endlich erschien ein Drache am
Himmel, zog einen Kreis um den Fahnenmast, dippte
über dem brennenden Holzstoß die Schwingen und
verschwand von einem Augenblick auf den anderen - er ging ins Dazwischen, um sich ohne nennenswerte Zeitverzögerung an einen anderen Ort zu begeben.
Kindan, dem es nun oblag, das Leuchtfeuer in Gang
zu halten, sah den Drachen und winkte aufgeregt, derweil das Tier am Himmel schwebte. Später, als er ins Camp zurückkehrte, wurde er von den anderen Kindern bestürmt, seine Erlebnisse immer und immer wieder zu erzählen.
Meister Zist lauschte aufmerksam und brachte ihm
dann bei, wie man einen Bericht lebhaft ausschmückt, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu fesseln. Am Ende der Siebenspanne brauchte Kindan fünfzehn Minuten für seine Schilderung, und jeder Einwohner des Camps beobachtete gespannt den Himmel, in der Hoffnung, selbst einen Drachen zu sehen.
Wenn der Harfner seinem Schützling keinen Unterricht in Redekunst erteilte, tröstete er Natalon, der langsam verzweifelte, weil sich kein Drachenreiter mehr blicken ließ.
»Wieso ist nicht schon längst einer bei uns und hilft uns, das Ei der Wachwher-Königin zu transportieren?«, schimpfte er. »Wie lange kann Aleesa überhaupt warten?«
Meister Zist wiegte bedächtig sein Haupt. »Das weiß ich nicht. Der Fort Weyr hätte noch am selben Tag, an dem der Meldereiter von der Anforderung Kenntnis erhielt, einen Drachen geschickt.«
»Vielleicht kann ein Drache bei uns nicht landen«, mutmaßte Natalon und ließ den Blick über das Camp schweifen. »Ob es daran liegt, dass niemand kommt?
Weil es hier keinen geeigneten Landeplatz für ein so gewaltiges Tier gibt?«
»So groß ist kein Drache, dass er hier nicht aufsetzen könnte, Natalon«, widersprach der Harfner. »Eine Kö-
nigin oder ein bronzefarbener Drache hätten möglicherweise Schwierigkeiten, aber die würden dann auf den Hügelkuppen unweit des Signalfeuers landen.«
»Und der Reiter würde zu Fuß ins Camp hinabstei—
gen?«, wunderte sich Natalon. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass ein Drachenreiter die halbe Meile marschierte, die die heimischen Kinder rennend zurücklegten.
»Warum denn nicht?«, erwiderte Zist schmunzelnd.
»Wenn ich mich nicht irre, sind sie mit zwei Beinen ausgestattet, wie normale Sterbliche auch.«
Natalon funkelte ihn ob seiner Ironie wütend an, doch der Harfner behielt seinen belustigten Gesichtsausdruck, bis auch der Steiger sich zu einem halbherzigen Lächeln durchrang.
Schließlich klopfte Meister Zist dem Bergmann auf
die Schulter. »Spaß beiseite, Natalon, so arrogant sind die meisten Drachenreiter gar nicht. Selbstverständlich legen sie nicht jede Strecke auf dem Rücken ihrer Tiere zurück, sondern gehen auch zu Fuß, wenn es sein muss.«
»Angenommen, man ignoriert unsere Bitte. Irgendwann wird es zu spät, um das Wachwher-Ei zu holen.«
Zist stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn du erst einmal so alt bist wie ich, Natalon, dann hast du hoffentlich gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen.«
Natalon lachte. »Du hast Recht, Harfner. Wenn ich
dein Alter erreicht habe, werde ich manches akzeptieren, mit dem ich mich jetzt noch nicht abfinden mag.«
*
An diesem Abend fiel Kindan auf, dass Meister Zist niedergedrückt wirkte. Während der letzten zwei Tage hatte sich der Junge abwechselnd deprimiert und glücklich gefühlt. Mal war er besorgt, weil der Drache noch nicht kam, dann wieder freute er sich, weil ihm eine Atempause vergönnt war. Einerseits war er stolz, weil man ihn dazu auserkoren hatte, einen Wachwher großzuziehen, doch mitunter plagten ihn Bedenken an-gesichts der schwierigen, verantwortungsvollen Aufgabe.
»Von dir wird eine Menge verlangt, Junge«, eröffnete der Meister das Gespräch. Nachdem er an die Tür geklopft hatte, betrat er Kindans Zimmer. Der Bub lag bereits im Bett.
»Das ist mir bewusst«, antwortete Kindan.
»Dein Vater hat dir vermutlich alles beigebracht, was man
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