Drachenwege
kicherte. »Du hättest dich hören sollen, als du Meister Zist begegnet bist. Mir schien, du warst ganz außer dir vor gerechter Empörung.«
Jählings blieb Kindan stehen und hielt das Mädchen am Ärmel fest. Ihm war ein Gedanke gekommen.
»Nuella«, begann er aufgeregt, »könntest du mir diesen geheimen Gang zeigen?«
*
Nuella zierte sich eine geraume Weile, doch
schließlich gelang es Kindan, sie dazu zu überreden, ihn in jenen geheimnisvollen Tunnel mitzunehmen.
»Natürlich wirst du warten müssen, bis es dunkel
ist«, betonte Nuella. »Dann treffen wir uns im zweiten Stockwerk unseres Hauses, und zwar auf dem Treppenabsatz.«
»Ich möchte Kisk mitbringen«, sagte Kindan.
»Warum nicht? Für sie könnte es ein gutes Training sein, den Gang zu erkunden. Im Gegensatz zu dir wird sie keine Schwierigkeiten haben, denn sie kann ja im Dunkeln sehen.«
Kindan zuckte die Achseln. »Wir ergänzen uns halt.
Deshalb arbeiten ja ein Wachwher und sein menschlicher Partner zusammen.«
»Das weiß ich«, erwiderte Nuella. »Dann treffen wir uns also heute Abend, nach meiner Unterrichtsstunde bei Meister Zist.«
»So spät?«
»Nun ja, du wirst ja wohl nicht von mir verlangen, dass ich meinen Unterricht versäume, oder?«, versetzte sie schnippisch.
»Natürlich nicht. Und du wirst auch ganz bestimmt
da sein?«
»Was dachtest du denn? Ohne mich findest du den
Gang nie«, hielt sie ihm entgegen und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen.
Kindan blies seufzend den Atem aus. »Na schön. Abgemacht. Bis heute Abend dann.« Er zog die Stirn kraus. »Warum treffen wir uns im zweiten Stockwerk und nicht vor der Küche?«, wunderte er sich.
»Weil sich der Eingang zum Tunnel im zweiten
Stockwerk befindet«, klärte sie ihn auf. »Warte ab, du wirst noch staunen.«
*
Von Anfang an lief nichts so, wie Kindan es geplant hatte. Nuella führte Kisk an einer Leine, und er zockelte hinterdrein.
»Warum muss ich immer am Schluss gehen?«, beschwerte er sich, als sie die erste Biegung des Geheimgangs erreichten. Er stolperte und wäre um ein Haar gefallen.
»Deshalb!«, versetze Nuella ungerührt. »Weil du
nichts sehen kannst und überall anstößt. Du willst doch, dass Kisk lernt, wie man in absoluter Finsternis Menschen führt, nicht wahr? Aber wie kannst du ihr etwas beibringen, wenn du dich selbst nicht zurechtfindest.«
»Erstens bin ich fremd hier, und zum anderen sehe
ich nicht die Hand vor Augen«, verteidigte sich der Junge.
Nuella zog arrogant die Nase hoch. »Mir macht das
nichts aus, denn ich bin ja ohnehin blind. Sag mal, Kindan, hast du noch nie versucht, mit geschlossenen Augen zu gehen?«
»Nein«, erwiderte er. Im selben Moment stieß er mit dem Fuß gegen einen Stein, verlor das Gleichgewicht und landete auf Händen und Knien.
»Dann wird es höchste Zeit, dass du es lernst.« Im Plauderton fügte sie hinzu: »Es war das erste Spiel, das ich gemeinsam mit Dalor spielte.«
»Wirklich?«
»Nun ja, wenn wir irgendetwas gemeinsam unter—
nahmen, war er mir natürlich immer überlegen, weil ich ja nicht sehen konnte. Anfangs fuchste es mich, dass ich immer nur die Zweite war. Bis Mutter mir vorschlug, ein Spiel zu spielen, in dem ich meine Stärke beweisen konnte. Also fingen wir an, im Dunkeln zu spielen.« Sie lachte. »Nun war Dalor der Unterlegene. Manchmal war ich so gemein und verrückte die Möbel, damit er dagegen stieß.«
Kindan, dem die Knie schmerzten, verstand immer
noch nicht, warum Nuella die Gruppe anführte, dichtauf gefolgt von Kisk. Und er war angehalten, das Schlusslicht zu bilden. Nuella hatte ihm erklärt, sie könnte Kisk den Weg zeigen; das Mädchen vermochte sich im Stockfinstern sicher zu bewegen, und der
Wachwher mit seinen übergroßen Augen besaß ein geradezu unheimlich anmutendes Sehvermögen. Nuella und Kisk marschierten forschen Schrittes drauflos, derweil Kindan darauf angewiesen war, mehr schlecht als recht hinter ihnen her zu stolpern. Der Tunnel, durch den sie sich bewegten, war so schmal, dass sie nicht zu dritt nebeneinander gehen konnten.
»Wie weit ist es noch?«, fragte er. Es kam ihm vor, als seien sie schon eine Ewigkeit unterwegs. Jetzt bereute er es, dass er sich von Nuella dazu hatte überreden lassen, keinen Leuchtkorb mitzunehmen.
Angenommen, dem Mädchen passierte irgendein
Unglück - wie sollte er dann den Weg nach draußen
finden? Doch dann vergegenwärtigte er sich, dass er bis jetzt der Einzige war, der unbeholfen umhertappte und
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