Drachenwege
über jede Unebenheit im Boden strauchelte.
»Wie ich schon sagte, macht der Gang zwei Biegun—
gen.« Die Stimme des Mädchens klang leise, offenbar hatten sie und Kisk bereits einen recht großen Vor-sprung gewonnen. »Die scharfe Kurve kommt zuerst, und die nächste ist dann so sachte geschwungen, dass es einem kaum auffällt. Du musst dir nur merken, dass es auf dem Rückweg genau umgekehrt ist. Erst die sanfte Kurve, dann eine Kehre, die einen spitzen Winkel vollführt.«
Kisk drehte den Kopf nach hinten und blies mit
einem leisen Schnauben den Atem aus. Es klang, als wolle sie Kindan Mut zusprechen.
»He, ich glaube, ich kann Kisks Augen sehen«, rief er aufgeregt.
»Du glaubst es nur?«, fragte Nuella. »Wie kann man glauben, dass man etwas sieht? Entweder man erkennt es, oder man erkennt es nicht.«
»Nun ja, das ist schwer zu erklären. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber mir war, als sähe ich zwei runde, glänzende Scheiben.«
Kisk hatte den Kopf wieder nach vorn gereckt, und
das Bild, das er mehr ahnte als bewusst wahrnahm,
verschwand.
Nachdenklich erwiderte Nuella: »Manchmal scheint
es mir, als könnte ich auch etwas sehen, ohne dass es real ist. Es gleicht einem Traumbild. Ich wurde ja nicht blind geboren, während meiner ersten Lebensjahre konnte ich sehen. Und deshalb träume ich in Bildern.
Offen gestanden finde ich das Ganze manchmal sehr
verwirrend.«
Kindan, dessen Augen nach Helligkeit gierten, hatte das Gefühl, als tanzten in seinem Kopf allerlei flim-mernde Lichter.
Doch zumindest war die Luft kühl und klar. Das
Atmen bereitete ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten. Mit den Fingerspitzen fuhr er die Tunnelwand entlang, wie Nuella es ihm geraten hatte. Anfangs hatte er versucht, sich an Kisks Schwanz festzuhalten, doch der Wachwher hatte sich vehement dagegen gesträubt.
Es schien ihm, als sei sein Gehör in der Dunkelheit besser geworden. Er vernahm Nuellas ruhige Atemzüge und das flache, hastige Schnaufen des Wachwhers.
Geräusche, die ihm ein Gefühl von Sicherheit
vermittelten. Nach einer Weile hatte er sich an das Laufen in der Finsternis gewöhnt. Er stieß nicht mehr gegen jeden Stein, konzentrierte sich auf die Laute, die er hören konnte, und fühlte sich nicht mehr so desorientiert wie zu Anfang. Doch eine gewisse Angst blieb.
»Du denkst zu viel«, rief Nuella ihm unvermittelt zu.
»Spitz einfach die Ohren, aber streng dich nicht so an.
Du musst dich entspannen.«
»Woher willst du wissen, dass ich nicht entspannt
bin?«, fragte er gereizt.
»Ich höre es an der Art, wie du atmest. Ein Mensch, der keine Angst hat, atmet in ruhigen, gleichmäßigen Zügen. Du machst ab und zu einen tiefen Schnaufer, hältst dann den Atem an, und dann fängst du an zu he-cheln.«
Kindan stöhnte resigniert. »Vor dir kann man auch
nichts geheim halten«, beschwerte er sich.
Nuella kicherte. »Nicht, wenn es dunkel ist. Da bin ich allemal im Vorteil. Manchmal kann ich Dalor damit zur Weißglut reizen.«
»Ich kann verstehen, dass er wütend wird«, bekannte Kindan.
»Na schön«, lenkte Nuella ein. »Ich werde dich nicht mehr aufziehen, nur weil du dich in der Dunkelheit so linkisch anstellst. Und du achtest nur noch auf Geräusche und vergisst, dass du nichts sehen kannst, einverstanden?«
Kindan nickte; es war ihm gleichgültig, ob Nuella
seine Kopfbewegung »spüren« konnte oder nicht, und sie setzten ihren Marsch durch den Tunnel fort.
Nach einer Weile merkte Kindan, dass seine rechte
Hand ständig an der Wand entlangstreifte. Er wich nach links aus, doch wieder schrammte die Hand gegen den Felsen.
»Sind wir an der Biegung angelangt?«, erkundigte er sich.
»Ja, und du darfst stolz auf dich sein, weil du das so schnell erkannt hast«, lobte ihn Nuella. »Ich hatte mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis du darauf kommen würdest, dass der Tunnel an dieser Stelle ab-knickt.«
»Dann sind wir vermutlich gleich am Ziel?«
»Richtig. Noch ungefähr fünfzig Schritte«, erklärte Nuella. Siedend heiß rief sich Kindan in Erinnerung, dass Nuella ihm eingeschärft hatte, unbedingt die Schritte zu zählen. Im Eifer des Gefechts und durch die ungewohnte Situation hatte er es völlig vergessen. Er fragte sich, ob Nuella die Schritte gezählt hatte, oder ob sie aus Erfahrung die Entfernungen abzuschätzen wusste.
»Warte!«, zischte sie ihm plötzlich zu. »Hör genau hin.«
Kindan lauschte angestrengt. Er merkte, dass Kisk
sich bewegte und den
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