Drachenwege
zu übersehen war, dass Meister Zist Kindan rücksichtsvoller behandelte als alle anderen Schüler. Als Cristov und Kaylek anfingen, darüber stichelnde Bemerkungen zu machen, wünschte sich Kindan, der Meisterharfner möge genauso ruppig mit ihm umgehen wie mit den übrigen Kindern.
»Wieso hat er nur einen Narren an dir gefressen?«, höhnte Cristov einmal während der Mittagspause. »Bist du sein Liebling, weil du so schön singen kannst?«
»Was anderes kann es ja wohl nicht sein«, entschied Kaylek.
Aber Kindan wusste genau, warum Meister Zist ihn niemals zu hart anfasste. Kurz nachdem Silstra mit Terregar das Camp verlassen hatte, war es erneut zu einem Kräftemessen zwischen Kindan und dem Meister gekommen; der Streit, der zwischen ihnen entbrannte, war genauso heftig gewesen wie der Zusammenprall gleich am ersten Tag ihrer Begegnung.
Und wiederum hatte es keinen eindeutigen Sieger oder Besiegten gegeben, doch Kindan hatte erkannt, dass Meister Zist mit seiner scheinbaren Sturheit und Hartnäckigkeit etwas ganz Bestimmtes bezwecken wollte - seine Schüler sollten ihr Bestes geben, ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen. Vor allen Dingen durften sie keine Angst haben, ihn um Hilfe zu bitten.
Kindan begriff, dass ihr Lehrer das Optimale aus seinen Schützlingen herausholen wollte und nahm die Herausforderung an.
Anfangs war es schwer gewesen, doch bald genoss Kindan die Zeit, die er mit dem griesgrämigen Meisterharfner verbrachte. Er merkte, dass es vor allen Dingen auf Diplomatie ankam. Wenn er den richtigen Weg fand, um mit Meister Zist umzugehen, konnte er dessen Strenge ertragen und sich gegen ihn behaupten, ohne gleich als aufsässig abgestempelt zu werden.
Als Kindans elfter Geburtstag näher rückte, war er sogar imstande, mit Kaylek auszukommen. Nachdem Meister Zist ihn unablässig wegen seiner miserablen schulischen Leistungen tadelte, ließ Kaylek sich dazu herab, Kindan um Hilfe zu bitten.
Kalyek war gewitzt genug um einzusehen, dass die Arbeit in einem Bergwerk gefährlich war, und dass man ein fundiertes Fachwissen benötigte, um die Risiken zu minimieren. Also beugte Kaylek seinen Stolz - so weit es ihm möglich war - und ließ sich von seinem jüngeren Bruder Nachhilfeunterricht geben.
Dann kam der Tag, an dem Kaylek zum ersten Mal mit seinem Vater und seinen Brüdern in die Grube einfahren sollte. Kindan staunte nicht schlecht, als Kaylek ihn mitten in der Nacht weckte und ihm einen Becher mit heißem Klah in die Hände drückte.
»Ich dachte mir, du möchtest vielleicht bis zum Schachteingang mitkommen«, erklärte Kaylek ein bisschen verlegen.
Kindan wusste, das dies einem Friedensangebot gleichkam und sprang behände aus dem Bett. »Na klar begleite ich euch«, rief er.
Draußen war es stockfinster. Kayleks Schicht begann nach Einbruch der Dunkelheit und dauerte bis zum Morgengrauen. Man bezeichnete sie als »Wachwher-Schicht«, denn um diese Zeit waren die nachtaktiven Geschöpfe wach.
Ganz leise, um Jakris und Tofir nicht zu stören, zog Kindan seine Sachen an und folgte Kaylek, der schon in die Küche gegangen war.
»Dass du dabei sein sollst, hat Dad aber nicht gesagt«, gab Dakin zu bedenken, als er Kindan gewahrte.
»Ich komme nur bis zum Eingang mit«, beschwichtigte Kindan seinen Bruder.
Dakin zuckte die Achseln. »Von mir aus«, entgegnete er. »Sis ist auch manchmal mitgekommen.«
»Wo ist Dad?«, fragte Kaylek und sah sich in der Küche um.
»Bei Dask im Stall, wo denn sonst?«, antwortete Jaran, der Zweitälteste Sohn der Familie, in sachlichem Ton.
»Wir gehen zu ihm und fragen ihn, ob wir ihm be-hilflich sein können«, wandte sich Kaylek an Kindan.
»Passt bloß auf, dass Dask euch nicht beißt«, warnte Kenil. Kaylek machte ein verdutztes Gesicht. Mit fragender Miene wandte er sich an Jaran und Dakin. Beide Jungen nickten bestätigend.
»In letzter Zeit ist er ziemlich gereizt«, erläuterte Dakin. Er furchte die Stirn. »Das gefällt mir überhaupt nicht, und ich weiß, dass sich auch Dad deshalb Sorgen macht.«
»Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dask aggressiv wird«, sagte Jaran. Offenbar hatte er sich schon eine geraume Weile mit einem seiner Brüder über dieses Thema unterhalten, doch Kindan bekam nur den letzten Satz mit.
»Auf geht's, Jungs, die Zeit drängt!«, rief Danil von draußen.
Die Jungen stellten ihre Klahbecher in den Spülstein und trotteten zur Tür. Kindan folgte ihnen als Letzter.
Das Grüppchen begab sich zum Eingang der
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