Drachenwege
Schluss kamen Natalon und seine Familie an die Reihe. Silstra drückte Jenella fest an sich, und die beiden Frauen wünschten einander das Beste. Natalon nahm Silstra kurz in die Arme und murmelte ihr ein paar Worte ins Ohr, die Kindan nicht verstehen konnte.
Dann traten Tarik und sein Sohn Cristov vor. Kindan wunderte sich nicht, dass dieser Abschied recht kühl ausfiel. Silstra hatte den mürrischen Kumpel noch nie leiden können.
Endlich war die Karawane zum Aufbruch bereit.
Veran winkte den Bergarbeitern noch einmal fröhlich zu und gab dem Treck das Zeichen, mit dem Abmarsch zu beginnen. Schwerfällig klabasterten die massigen Zugtiere den serpentinenreichen Weg hinunter, der um den See führte und bei Burg Crom endete.
Kindan sah den Wagen hinterher, bis sie seinem Blickfeld entschwanden, und nur noch eine lange Staub-fahne ihre Passage markierte.
»So«, sagte Danil leise, »das war's dann.«
Natalon schlug ihm derb auf die Schulter. »Jawohl, das war's.«
Danil wandte sich zu ihm und erklärte in ernsthaftem Ton: »Steiger Natalon, ich möchte dir danken, dass du die Hochzeit meiner Tochter in dieser großzügigen Art und Weise ausgerichtet hast.«
Natalon nickte und nahm die gleiche förmliche Haltung an. »Danil, es war mir eine Ehre.« Er legte eine Pause ein, dann fügte er energisch hinzu: »Und jetzt müssen wir in die Grube einfahren. Auf uns wartet viel Arbeit.«
Kapitel 3
Wachwher, Wachwher, halte Wacht,
Beschütz uns in der finstren Nacht!
Und wenn endlich graut der Morgen,
Sind zu Ende deine Sorgen.
Nachdem ein paar Monate vergangen waren, kam es Kindan vor, als hätte sich im Wesentlichen kaum etwas geändert. Er übte immer noch dieselben Pflichten aus.
Der Harfner erteilte ihm nach wie vor Unterricht, und Kaylek piesackte ihn, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bot. Wenn man ihn nicht für Botengänge heranzog, musste er auf der Hügelkuppe Wache schieben.
Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass doch eine bedeutsame Veränderung eingetreten war. Nun stand er des Morgens als Erster auf und musste das Frühstück für die ganze Familie zubereiten. Sein Vater hatte ihm befohlen, sich in der Morgendämmerung um Dask zu kümmern, und auch diese Aufgabe war neu.
Während der Schulstunden bei Meister Zist bemerkte Kindan nach einer Weile, dass Zenor immer häufiger dem Unterricht fern blieb, doch dafür fand sich Dalor mit schöner Regelmäßigkeit ein. Früher hatte Dalor öfter gefehlt, und da keine offizielle Entschuldigung einging, schien er entweder ein kränkliches Kind zu sein, oder sein Vater ließ ihn ständig für sich arbeiten.
In einer Siebenspanne glänzte er mindestens zwei Mal durch Abwesenheit.
Nun jedoch nahm Dalor täglich am Schulunterricht teil, der an sechs Tagen einer Siebenspanne stattfand.
Ein Tag war traditionsgemäß frei.
Aber vielleicht hatte hier Meister Zist seine Hand im Spiel. Der Meisterharfner war schon streng, wenn es um die Gesangsausbildung ging, doch im normalen Schulunterricht, wenn allgemeines Wissen vermittelt wurde, verstand er überhaupt keinen Spaß und ließ keinen Fehler durchgehen.
»Sieh dir das an! Dieses Gekrakel sollen Buchstaben sein?«, schimpfte er einmal mit der kleinen Sula. »Und mit dieser schlampigen Schrift möchtest du Backrezepte aufschreiben und sie auch noch mit anderen Leuten tauschen? Was denkst du dir eigentlich dabei?«
Sula hatte den Kopf eingezogen und die Standpauke demütig über sich ergehen lassen. Wie alle wussten, wollte sie eines Tages im Geschäft ihrer Mutter arbeiten, die eine Backstube betrieb.
An einem anderen Tag stauchte Meister Zist den sonst so dreisten Kaylek zu einem Häufchen Elend zusammen. Mit hochrotem Kopf konnte er nur noch kleinlaut stammeln. Als der Harfner ihn Rechenaufga-ben lösen ließ, beherrschte er nicht die einfachsten Regeln der Multiplikation. »Kaylek«, fuhr Zist den beschämten Burschen an, »wie willst du berechnen, welches Gewicht ein Stützbalken aushalten muss, wenn du nicht einmal imstande bist, die Größe der Firste* zu ermitteln?«
Dalor wurde nicht etwa besser behandelt, nur weil er der Sohn des Obersteigers war. Doch Kindan fiel auf, dass Meister Zist ihn nicht überforderte. Wenn er vor-mittags Dalor hart rangenommen hatte und der Junge verunsichert war, bemühte er sich, ihn am Nachmittag
* First (Hangendes) - »Decke« eines durch bergmännischen Betrieb geschaffenen Raums - Anm. d. Übers.
wieder aufzubauen.
Nicht
Weitere Kostenlose Bücher