Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
hatten wir gedacht, es bedeutete, dass ich weit fort reisen und mich nach England zurücksehnen würde. Das hatte sich
in der Tat bewahrheitet. Und doch wurde mir nun auch eine andere Bedeutung dieses Satzes klar. Ich wünschte mich wirklich
zurück. Zurück zu meinem menschlichen, sterblichen Selbst.
Jeden Tag zeigten sich bei mir mehr und mehr vampirartige Eigenschaften. Kehrte ich mit dem Wissen nach England zurück, dass
ich mit Draculas Blut vergiftet war? Wie lange würde es dauern, bis auch die anderen entdeckten, dass meine Vampirsymptome
nicht verschwunden waren?
|494| Und was würden sie unternehmen, sobald sie das herausgefunden hatten?
Lange nach Mitternacht zogen wir uns in unsere improvisierten Zelte zurück. Jonathan hatte aus einem Stapel Pelzdecken ein
Bett gemacht. Ich gesellte mich dort zu ihm und schlug meinen Umhang um mich, während er eine warme Decke über uns breitete.
Dann nahm er mich in die Arme.
»Es ist vorbei, Mina. Vorbei! Endlich ist deine Seele frei!« Ich war froh, dass Jonathan in der Dunkelheit mein Gesicht nicht
sehen konnte. »Ja«, antwortete ich leise.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte er. »Du bist mein Ein und Alles. Wir wollen auf der Heimreise in Paris einen Zwischenaufenthalt
einlegen und gebührend feiern. Wir werden all die Orte noch einmal besuchen, an denen wir uns in unseren Flitterwochen so
erfreut haben. Nur werden wir diesmal in den schönsten Hotels absteigen und in den besten Restaurants speisen. Würde dir das
gefallen?«
»Ja«, erwiderte ich wiederum, wobei mir beinahe die Stimme versagte.
»Wenn wir wieder zu Hause sind, möchte ich sobald als möglich mit dir Kinder bekommen. Wir werden ein Haus voller kleiner
Harkers haben, die unser Leben mit Freude erfüllen. Wie viele Kinder sollten wir haben? Fünf oder sechs?«
Tränen brannten mir in den Augen. Ich konnte kaum sprechen. »Sechs«, brachte ich mühsam hervor.
»Dann sollen es sechs sein«, meinte er und küsste mich. »Warum weinst du, Liebste?«
»Weil ich so glücklich bin«, log ich.
»Ich auch.« Seine Stimme wurde schwächer, als ihn die Erschöpfung übermannte. »Vor uns liegt ein langes, wunderbares Leben,
Frau Harker, und wir wollen das Beste daraus machen. Ist dir warm genug?«
Nun war ich des Sprechens nicht mehr fähig. Ich konnte nur noch nicken.
|495| »Schlaf gut, meine Liebste.« Er hielt mich in den Armen und schlummerte sanft ein.
Todunglücklich lag ich noch lange wach und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten.
Endlich schlief auch ich ein. Und träumte.
Ich träumte, ich wäre zu Hause in Exeter und säße an einem hellen, sonnigen Tag in unserem Garten. Eine leise Brise raschelte
durch die belaubten Zweige der Bäume. Die Vögel zwitscherten. Alles war wunderschön und heiter. Ich las in dem Buch, das mir
Jonathan gekauft hatte. Es war Shakespeares Sonnet 71:
Wenn ich gestorben, traure länger nicht
Als dumpfer Grabeglocken Trauerton
Der Welt von meinem Scheiden gibt Bericht,
Und dass zu armen Würmern ich entflohn … 1
Plötzlich fühlte es sich so an, als versengte mir die Sonne, die mir bisher Kopf und Schultern gewärmt hatte, das Fleisch.
Ein schrecklicher, ständig wachsender Durst überwältigte mich. Ich schenkte mir ein Glas Limonade ein und nahm einen Schluck,
nur um ihn sofort angewidert wieder auszuspucken.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Zwitschern der Vögel in den nahe stehenden Bäumen. Das Geräusch schien sonderbar
angeschwollen zu sein. Es war, als könnte ich den Vogelgesang nicht nur hören, sondern auch seinen Widerhall in meinem Körper
spüren, so wie man das Schnurren einer Katze spüren kann. Ich erhob mich, wie magnetisch von dem Klang angezogen. Ich blieb
stehen und starrte zu den Zweigen des nächsten Baumes hinauf, wartete auf … ich weiß nicht, auf was. Gleichzeitig begann mein
Kiefer schrecklich zu schmerzen. Als ich meine Zähne berührte und mich |496| über diesen plötzlichen Schmerz wunderte, musste ich zu meiner großen Überraschung feststellen, dass meine vier Eckzähne lang
und scharf geworden waren wie die Reißzähne eines Tigers.
Da flatterte vor mir ein kleines Vögelchen von einem Zweig herab. Instinktiv fuhr meine Hand nach oben und schnappte das winzige
Wesen in der Luft. In einem einzigen unbeherrschten Augenblick rupfte ich dem Vogel die Federn aus und hieb ihm meine Zähne
in den nackten Körper, während ich gierig sein Blut in meinen
Weitere Kostenlose Bücher