Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
reserviert. Am Borgopass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir
bringen. Ich hoffe, dass Sie von London bis hierher eine gute Reise hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner schönen
Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula
|162| Jonathan war überrascht, als der Wirt des Hotels ihn davon abzubringen versuchte, die Reise fortzusetzen. Zu seiner weiteren
Bestürzung kam dessen Ehefrau in hysterischem Zustand zu ihm, warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn an, nicht weiterzufahren.
Sie rief: »Wissen Sie wirklich nicht, wohin Sie gehen und was Sie erwartet?«
Als Jonathan darauf beharrte, er hätte geschäftliche Angelegenheiten auf der Burg Dracula zu erledigen und könne schlecht
abreisen, ohne diese abzuschließen, trocknete die Frau ihre Tränen und legte ihm einen Rosenkranz und ein Kruzifix um den
Hals und beschwor ihn, diese stets zu tragen, »um seiner Mutter willen«.
Jonathan hielt dieses Benehmen für außerordentlich seltsam, bis er am nächsten Morgen in die Postkutsche stieg und bemerkte,
dass die Bauern des Ortes ihn voller Mitleid ansahen und immer wieder seltsame Worte murmelten, die übersetzt »Werwolf« und
»Vampir« bedeuteten. Während die Kutsche ihn immer tiefer in die Berge der Karpaten trug, wurde Jonathan zunehmend unruhig.
Seine Mitreisenden schauten ihn alle mit ängstlichen Blicken an und drängten ihm ohne ein Wort der Erklärung Kruzifixe und
andere Zauber gegen den bösen Blick auf, zum Beispiel Knoblauch und Zweige der wilden Rose und Eberesche. Was für einen Mann
würde er besuchen, fragte sich Jonathan, da alle solche Besorgnis um ihn zeigten?
Am späten Abend jenes Tages erwartete, wie versprochen, an einer einsamen Biegung des Borgopasses, eine Kalesche mit vier
kohlschwarzen Pferden die Postkutsche. Sie war von der Burg Dracula geschickt worden, um Jonathan abzuholen. Bei ihrem Anblick
brachen die Bauern in lautes Geschrei aus und bekreuzigten sich. Einer von Jonathans Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn
die Worte zu:
»Die Toten reiten schnell.«
Ich musste in meiner Lektüre innehalten, denn mir standen die Nackenhaare zu Berge. Diesen Satz erkannte ich. Es war eine
Zeile aus Gottfried Bürgers Ballade
Lenore,
jener |163| finsteren und schrecklichen Erzählung von einer jungen Frau, die vom auferstandenen Leichnam ihres Verlobten auf einem wilden
Ritt zu einem Friedhof gebracht und dann von ihm in den Sarg und in den Tod gezogen wird!
Gleichermaßen fasziniert und entsetzt nahm ich Jonathans Tagebuch wieder zur Hand und las weiter.
Das Gefährt wurde von einem seltsamen, hochgewachsenen Mann mit braunem Vollbart und einem großen schwarzen Hut kutschiert,
der wohl sein Gesicht verbergen sollte. Er drückte Jonathan die Hand mit stahlhartem Griff. In fließendem Englisch gebot er
Jonathan, in die Kalesche zu steigen. Furchtsam tat dieser, wie man ihn geheißen hatte, da er keine andere Möglichkeit sah.
Die Kalesche jagte in scharfem Tempo dahin. Die Fahrt zur Burg wurde immer grausiger. Erschreckt von heulenden Wölfen, begannen
die Pferde zu scheuen und zu schnauben. Der Kutscher hielt an und beruhigte die Pferde, indem er sie streichelte und liebkoste
und leise auf sie einsprach. Später war das Gefährt von einem riesigen Rudel von Wölfen umringt. Da stieg zu Jonathans größtem
Erstaunen der Kutscher vom Bock und trat auf den Weg. Er schwenkte seine langen Arme, rief im Befehlston ein Kommando, und
die Tiere wichen mehr und mehr zurück! Das alles war so seltsam und unheimlich, dass Jonathan nicht zu sprechen oder sich
zu regen wagte.
Als das Gefährt schließlich die Burg erreichte und Jonathan in völliger Dunkelheit im Hof eines großen, ruinenhaften Gebäudes
absetzte, blieb er zunächst längere Zeit allein. Furcht und Zweifel stiegen in ihm auf. Auf was für ein unheimliches Abenteuer
hatte er sich da eingelassen? Endlich ging unter dem Rasseln von Ketten und dem Schleifen massiver Türriegel, die zurückgeschoben
wurden, das große Tor auf, und er lernte seinen Gastgeber kennen.
»Ich bin Dracula«, sprach der hochgewachsene, schlanke alte Graf. Er schüttelte Jonathan die Hand; er drückte sie dermaßen
fest, dass Jonathan zusammenzuckte. Dabei war die |164| Hand des Grafen so kalt wie Eis. »Willkommen in meinem Hause, Herr Harker! Treten Sie frei und aus eigenem Entschluss herein!«
Der Graf war bleich, die Haut beinahe so weiß wie sein Haar und sein Schnurrbart. Er
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