Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
bleiben. »Nein, Liebster. Ich kenne ihn nicht. Wer ist das denn?«
»Er ist es selbst!«
Ich hatte keine Vorstellung, wen Jonathan damit meinte, trotzdem schockierte und ängstigte mich seine Antwort. Denn er schien
nicht zu mir, sondern zu sich selbst zu sprechen. Und er war äußerst bestürzt. Ich glaube, wenn ich nicht neben ihm gestanden
und ihn gestützt hätte, er wäre wohl ohnmächtig zu Boden gesunken. Nun kam ein Angestellter aus dem Juwelierladen und reichte
der Dame ein zierliches Paket, worauf sich die Kutsche in Bewegung setzte. Rasch winkte der seltsame Mann eine Droschke herbei,
sprang hinein und folgte in der gleichen Richtung.
Jonathan starrte ihm hinterher und sagte in größter Erregung, immer noch wie im Selbstgespräch: »Ich glaube, es ist der Graf,
aber er ist jünger geworden. Entsetzlich, wenn das wirklich so wäre! O mein Gott, o mein Gott! Wenn ich nur wüsste, wenn ich
nur wüsste!«
»Du musst dich täuschen, mein Lieber.« Mein Herz raste verängstigt. Nun begriff ich, dass Jonathan der Meinung war, dieser
Mann sei derselbe Graf Dracula, den er in Transsilvanien aufgesucht hatte. Seine Worte ergaben für mich keinen Sinn. Wie konnte
ein Mensch jünger werden? Ich zögerte jedoch, ihm Fragen zu stellen, weil ich fürchtete, das könnte wieder das Nervenfieber
hervorrufen, das ihn schon einmal so geschwächt hatte. Also schwieg ich und zog Jonathan weiter.
Er sagte kein einziges Wort mehr, ließ es aber zu, dass ich ihn führte. Wie benommen ging er neben mir her, bis wir den Green
Park erreichten, wo wir uns auf eine schattige Bank setzten. Jonathan schloss die Augen und lehnte sich an mich, hielt immer
noch meine Hand in der seinen. Nach wenigen Minuten spürte ich, wie sich sein Griff lockerte, und bemerkte, dass er eingeschlafen
war.
Während ich so dasaß, Jonathans Kopf an meine Schulter geschmiegt, und lauschte, wie eine leichte Brise durch die |158| Blätter raschelte, raste mein Herz noch immer. Wer war der seltsame Mann gewesen, den wir gesehen hatten? Warum ähnelte er
Herrn Wagner so sehr? Er hätte der Vater dieses Herrn sein können, doch Herr Wagner hatte mir ja gesagt, dass seine beiden
Eltern verstorben waren. Warum, überlegte ich, hatte Jonathan beim Anblick dieses Mannes so heftig reagiert? Wenn ich ihn
nur hätte fragen können! Aber ich wagte es nicht, denn ich fürchtete, dass mehr Schaden als Nutzen daraus entstehen würde.
Unsere Heimkehr an jenem Abend war eine traurige Angelegenheit. Das Haus fühlte sich fremd und leer an ohne Herrn Hawkins.
Jonathan war bleich und verstört, er hatte einen leichten Rückfall in seine Krankheit erlitten. Und mich erwartete ein Telegramm,
das am Tag zuvor aus London abgeschickt worden war und äußerst verheerende Nachrichten enthielt:
21. SEPTEMBER 1890
FRAU MINA HARKER: ICH HABE IHNEN DIE TRAURIGE MITTEILUNG ZU MACHEN, DASS MRS. WESTENRA VOR FÜNF TAGEN VERSTORBEN IST. IHRE
TOCHTER LUCY FOLGTE IHR VORGESTERN NACH. BEIDE SIND HEUTE BEERDIGT WORDEN.
ABRAHAM VAN HELSING
Ich las die Worte einmal, zweimal, dreimal und hoffte, dass irgendein Irrtum vorlag. Als mir schließlich die volle Bedeutung
dieser schrecklichen Nachricht aufging, schien der Boden unter meinen Füßen nachzugeben. Ich sank auf dem Sofa zusammen und
stieß einen Schmerzensschrei aus.
»Was ist?«, fragte Jonathan, während er an meine Seite eilte. »Was ist geschehen?«
»Oh, welch eine Fülle von Elend in so wenigen Worten!«, stammelte ich, als ich ihm das Telegramm reichte.
Er las es, sank dann wie betäubt neben mir nieder. »Frau Westenra? Und Fräulein Lucy? Beide tot
? «
|159| Tränen schossen mir in die Augen. »Wie ist das möglich? Ich wusste, dass Frau Westenra krank war. Und doch hatte ich gehofft,
sie würde sich wieder erholen. Ich werde sie schmerzlich vermissen. Aber Lucy! Die arme, liebe Lucy! Meine liebste, meine
allerliebste Freundin. Nächste Woche wäre ihr Geburtstag gewesen! Sie war nicht einmal zwanzig Jahre alt!«
»Es tut mir so leid, Mina«, sagte Jonathan leise und nahm meine Hand. »Sie war eine wunderschöne junge Frau, und ich weiß,
wie sehr du sie gemocht hast.«
»In ihrem letzten Brief schrieb sie, sie sei wohlauf und glücklich«, schluchzte ich. »Wie kann sie da tot sein? Was ist da
nur geschehen?«
»Vielleicht hatte sie einen Unfall.«
»Wenn das so ist, wer ist dann dieser Herr van Helsing? Warum hat er mir geschrieben? Warum habe ich so
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