Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Selbst die Diener und Haushälterinnen
mittleren Alters, die alt genug gewesen wären, um etwas über das Hin und Her in der Nachbarschaft wissen zu können, hatten
keinerlei Erinnerung an ein Hausmädchen namens Anna oder einen Mann namens Herr Cuthbert. Jedoch tischte man uns einige andere
Geschichten auf, Berichte von Mädchen, die »während sie in Stellung waren, in andere Umstände kamen«, dann fortgegangen waren,
und von denen man nie wieder etwas gehört hatte.
Schon wollte ich aufgeben, doch Herr Wagner bestand darauf, es noch in einem weiteren Haus zu versuchen. Wieder einmal war
das fröhliche Hausmädchen, das uns die Tür öffnete, zu jung, um uns behilflich sein zu können.
»Es tut mir leid, Fräulein«, sagte die Frau. »Ich bin jetzt schon zehn Jahre hier angestellt, aber ich weiß nichts über irgendwelche
Dinge, die vor meiner Zeit hier geschehen sind.«
»Gibt es in der Nachbarschaft eine Familie namens Cuthbert oder einen Diener oder Kutscher mit diesem Namen, der vielleicht
vierzig Jahre oder älter ist?«, fragte ich, genau wie in jedem anderen Haus zuvor.
»Nein, Fräulein. Nicht, dass ich wüsste.«
Gerade wollte sie die Tür schließen, als Herr Wagner fragte: »Gibt es zufällig in der Nähe einen Mann, dessen Vorname Cuthbert
ist?«
»Nun, da wäre Sir Cuthbert Sterling, der im Haus Nummer 24 auf dieser Straße wohnt. Allerdings sieht man ihn |223| nicht oft, da er einen Sitz im Parlament hat. Und wenn er nicht arbeitet, geht er mit Lady Sterling aus.«
Mein Puls beschleunigte sich. »Wohnt er schon lang dort?«
»Oh, die Sterlings wohnen beinahe eine Ewigkeit hier in der Straße. Das hat man mir zumindest gesagt, beinahe fünfzig Jahre.«
Wir dankten ihr und gingen fort. »Nun!«, sagte Herr Wagner und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist doch eine interessante Entwicklung.«
»Der Mann ist im Parlament«, erwiderte ich skeptisch. »Er wohnt schon fünfzig Jahre hier. Wer weiß, vielleicht ist er achtzig
Jahre alt!« Die Herausforderung in Herrn Wagners Augen konnte ich jedoch unmöglich ignorieren. »Nun gut«, sagte ich lachend.
»Wir gehen hin und fragen. Doch das ist gewiss unsere allerletzte Erkundung. Ich muss nach Purfleet zurück, ehe sich Dr. Seward
um mich sorgt.«
Ich hatte Schwierigkeiten, im fahlen Schein der Straßenlaternen die Hausnummern auszumachen, doch Herr Wagner konnte sie mit
Leichtigkeit lesen. Er fand die Nummer 24 und klopfte an. Eine stämmige Frau mittleren Alters in der adretten Kleidung einer
Haushälterin öffnete uns die Tür. Ihr rotes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Als sie mich erblickte, zeichnete sich
auf ihren Zügen größte Verblüffung ab.
»Du liebe Güte!«, rief sie, und ihre Hand flog zum Mund. »Anna Logan? Wie kann dass denn sein? Aber nein, nein, verzeihen
Sie mir, das ist ja vollkommen unmöglich.«
Der Gefühlsausbruch dieser Frau hatte mich derartig überrascht, dass ich beinahe vergaß, was ich sagen wollte. »Ist … Sir
Cuthbert Sterling zu Hause?«, brachte ich zögernd hervor.
»Es tut mir leid.« Sie schaute zu Herrn Wagner, doch sein charmantes Lächeln schien ihr Missbehagen nur noch zu erhöhen. »Er
und Lady Sterling sind gegenwärtig außer Haus. Darf ich ihnen sagen, wer sie zu sprechen wünschte?«
»Ich bin Frau Harker. Verzeihen Sie mir, aber Sie haben mich vorhin Anna Logan genannt. Ich bin hier, um mich nach einer |224| jungen Frau zu erkundigen, die vor etwa zweiundzwanzig Jahren in dieser Nachbarschaft gearbeitet hat. Ihr Name war Anna. Sie
war meine Mutter«, fügte ich unwillkürlich hinzu.
Nun betrachtete mich die Frau mit liebevollem Blick, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Ich meinte, ein Gespenst zu sehen«,
sagte sie und schüttelte verwundert den Kopf. »Ja, ja. Sie gleichen ihr aufs Haar, ganz bestimmt, bis auf die Augen. Anna
hatte dunkelbraune Augen.«
»Dann kannten Sie sie?« Mein Herz machte einen Freudensprung. »Hat sie in diesem Haus gewohnt?«
»Ja. Es ist schon lange her, und ich hatte damals gerade meinen Dienst hier angetreten. Wir waren beide Hausmädchen. Sie war
achtzehn Jahre alt, als sie … als sie gehen musste. Ich habe mich immer gefragt, was aus ihr geworden ist.«
»Sie ist wohl gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich würde gar zu gern mehr über sie erfahren, wenn Sie bereit
wären, mir zu erzählen, woran Sie sich erinnern.«
Die Frau öffnete den Mund, als wollte sie antworten, schloss ihn dann
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