Dracula - Stoker, B: Dracula
hören dürfen! Sehen Sie, ich habe versucht, mich nützlich zu machen: Ich habe die Worte mit der Schreibmaschine festgehalten, sodass zukünftig kein anderer mehr Ihr Herz schlagen hören muss, wenn er die Fakten Ihres Tagebuches benötigt.«
»Ja, das geht niemanden etwas an, und keiner soll es wissen«, sagte ich leise. Sie aber nahm meine Hand und entgegnete sehr ernst:
»Doch, die Tatsachen müssen auch andere erfahren.«
»Müssen sie? Warum?«, fragte ich.
»Weil sie einen Beitrag zu der entsetzlichen Geschichte liefern, |324| zur Geschichte von Lucys Sterben, und weil sie von all dem berichten, was dazu führte. In dem großen Kampf, den wir vor uns haben, um die Erde von dem Monster zu befreien, ist jede Erkenntnis, jede Hilfe von Wert. Ich weiß, die Zylinder, die Sie mir gegeben haben, enthielten mehr, als Sie mich eigentlich wissen lassen wollten. Aber sie haben mir auch gezeigt, dass Ihre Aufzeichnungen manches Licht auf das düstere Geheimnis zu werfen vermögen. Sie werden doch zulassen, dass ich Ihnen helfe, nicht wahr? Ich kenne die Lage nun bis zu einem gewissen Punkt, und ich weiß auch, obwohl mich Ihr Tagebuch bislang nur bis zum 7. September geführt hat, wie sehr die arme Lucy heimgesucht worden ist und wie sich der schreckliche Fluch ihrer mehr und mehr bemächtigt hat. Mein Mann und ich haben Tag und Nacht fieberhaft gearbeitet, seit van Helsing bei uns war. Jonathan ist nach Whitby gefahren, um sich genauer zu informieren, und er wird morgen wieder hier sein und uns helfen. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Gemeinsam und mit gegenseitigem Vertrauen sind wir stark, alleine aber tappt jeder von uns im Dunkeln.« Sie sah mich so flehend an und strahlte gleichzeitig so viel Mut und Entschlossenheit aus, dass ich mich augenblicklich Ihrer Auffassung anschloss. »Einverstanden«, sagte ich, »Sie dürfen in dieser Angelegenheit handeln, wie Sie es für richtig halten. Gott stehe mir bei, wenn ich hiermit einen Fehler begehen sollte, denn Sie werden entsetzliche Dinge zu hören bekommen! Aber da Sie nun schon so weit im Wissen um Lucys Todesumstände vorangeschritten sind, werden Sie über das noch Fehlende nicht im Unklaren bleiben wollen. Nun, das Ende – ihr
wirkliches
Ende – mag Ihnen immerhin einen Schimmer des Friedens zurückgeben. Doch jetzt kommen Sie bitte, es ist serviert! Wir müssen uns bei Kräften halten für das, was uns bevorsteht, denn wir haben eine grausame und schreckliche Aufgabe zu erfüllen. Wenn Sie gegessen haben, sollen Sie noch das Übrige erfahren. Ich werde Ihnen dann auch auf Ihre Fragen Auskunft geben, denn es ist anzunehmen, dass Sie manches nicht begreifen |325| werden, was uns, die wir zugegen waren, offen vor Augen lag.«
Mina Harkers Tagebuch
29. September
Nach Tisch holte ich mit Dr. Seward den Phonographen und meine Schreibmaschine aus meinem Raum, und wir gingen in sein Arbeitszimmer. Er schob mir einen bequemen Stuhl hin und stellte den Apparat so auf, dass ich ihn erreichen konnte, ohne aufzustehen. Dann erklärte er mir, wie man das Gerät abstellt, falls ich eine Pause machen wollte. Schließlich setzte auch er sich, und zwar mit dem Rücken zu mir, damit ich so ungestört wie möglich wäre, und begann zu lesen. Ich hielt mir die Hörmuschel ans Ohr und lauschte.
Als ich den furchtbaren Bericht von Lucys Tod und all dem, was danach kam, zu Ende gehört hatte, sank ich erschöpft in meinem Lehnstuhl zurück. Glücklicherweise neige ich nicht zu Ohnmachten, dennoch sprang Dr. Seward, als er meinen Zustand bemerkte, mit einem Schreckensruf auf, holte eine Flasche vom Regal und gab mir etwas Brandy zu trinken, der mich rasch wieder kräftigte. In meinem Kopf drehte sich alles, und nur der Gedanke an den Frieden, den meine geliebte Lucy nach all dem Horror gefunden hatte, ließ mich das Schreckliche ertragen, ohne zusammenzubrechen. Es war alles so wild, geheimnisvoll und befremdlich, dass ich es nie geglaubt haben würde, hätte ich nicht zuvor Jonathans Aufzeichnungen über seine Erlebnisse in Transsilvanien gelesen. Um meiner Verwirrung zu entkommen, wollte ich etwas tun. Ich nahm also den Deckel von meiner Schreibmaschine ab und sagte zu Dr. Seward:
»Lassen Sie mich dies alles übertragen. Wir müssen fertig sein, wenn Dr. van Helsing zurückkehrt. Ich habe an Jonathan ein Telegramm geschickt, dass er sofort hierherkommt, wenn er aus Whitby wieder in London eintrifft. In unserer Sache sind Informationen |326| alles,
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