Dracula - Stoker, B: Dracula
lesen …« Das Aufstöhnen ihres Mannes unterbrach sie. Sie ergriff seine Hand, führte sie an ihr Herz und sagte: »Eines Tages musst du sie mir ohnehin lesen. Was immer sich aus dem bedrohlichen Stand der Dinge ergeben mag, dieser Dienst wird uns allen, oder zumindest einigen von uns, eine große Beruhigung und ein Trost sein. Ich wünsche mir, dass du, mein Geliebter, dieses Gebet für mich liest, denn dann wird es mit deiner Stimme auf ewig in meinem Gedächtnis sein, komme, was da wolle.«
»Aber, Liebste«, bat er, »der Tod ist weit entfernt von dir!«
»Nein« sagte sie und erhob warnend die Hand. »Ich bin in diesem Moment schon in einem tieferen Tod, als wenn das Gewicht eines irdischen Grabes auf mir lastete.«
»Oh, meine liebe Frau, muss denn wirklich ich es sein?«, fragte er noch einmal.
»Es würde mich trösten, Geliebter«, erwiderte sie. Sie reichte ihm das Buch, und er begann zu lesen …
|483| Wie könnte ich, wie könnte irgendjemand diese seltsame Szene mit all ihrer Feierlichkeit, ihrem Schwermut, ihrer Trauer und ihrem Schrecken schildern, wo ihr doch zugleich ein so erhabener Zauber innewohnte? Selbst einem Skeptiker, der in religiösen und emotionalen Dingen nur eine Travestie der bitteren Wahrheiten des Lebens zu sehen vermag, würde das Herz aufgegangen sein, hätte er unsere kleine Gruppe liebender und einander ergebener Freunde so um die geschlagene und leidende Frau knien sehen. Mr. Harkers Stimme war erfüllt von zärtlicher Leidenschaft, und seine Worte waren so von seinen Gefühlen beherrscht, dass er sich immer wieder unterbrechen musste, während er das schlichte und ergreifende Totengebet las. Ich vermag es nicht zu schildern, es gibt keine Worte dafür …
Sie hatte in allem recht gehabt. So seltsam diese Szene auch war, so bizarr sie vielleicht später selbst uns erscheinen wird, die wir uns im Augenblick des Geschehens gänzlich in ihrem Bann befunden hatten, so sehr vermochte sie uns auch zu trösten. Das unmittelbar darauf einsetzende, dem Wandel Mrs. Harkers vorausgehende Schweigen erschien uns schon nicht mehr so hoffnungslos, wie wir gefürchtet hatten.
Jonathan Harkers Tagebuch
15. Oktober, Varna
Wir verließen Charing Cross am Morgen des 12., kamen in der Nacht noch nach Paris und nahmen dann unsere reservierten Plätze im Orient Express 1 ein. Wir fuhren die Nacht und den folgenden Tag hindurch und erreichten Varna etwa um fünf Uhr. Lord Godalming begab sich sofort aufs Konsulat, um nach Telegrammen zu fragen, wir Übrigen begaben uns ins Hotel »Odessa«. Unsere Reise verlief nicht ohne kleinere Zwischenfälle, |484| jedoch war ich zu erwartungsvoll, was das Kommende betraf, als dass ich mich um sie gekümmert und sie festgehalten hätte. Bis die »Zarin Katharina« in den Hafen einläuft, ist mir alles andere auf der weiten Welt gleichgültig. Gott sei Dank geht es Mina recht gut, es hat den Anschein, als kehrten ihre Kräfte zurück, und auch an Farbe hat sie wieder etwas gewonnen. Sie schläft sehr viel, während der Zugfahrt schlief sie fast die ganze Zeit. Vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist sie aber stets sehr lebendig und frisch, und van Helsing hat es sich zur Angewohnheit gemacht, sie zu dieser Zeit zu hypnotisieren. Anfangs hatte ihn dies viel Mühe gekostet, und er musste oft mehrere Versuche unternehmen, nun aber ist sie sehr rasch in Trance, sie folgt ihm augenblicklich, als hätte sie sich an das Verfahren gewöhnt. Es scheint in diesen Momenten, als würden ihre Gedanken dem Willen des Professors gehorchen. Er fragt sie immer, was sie sieht und hört. Auf die erste Frage antwortete sie bisher immer:
»Nichts, alles ist dunkel.« Und auf die zweite Frage hörten wir zuletzt:
»Da sind Wellen, die gegen das Schiff schlagen. Wasser rauscht vorbei. Segeltuch und Tauwerk knattern, Masten und Rahen knarren. Ein starker Wind, ich kann ihn in den Wanten hören, und der Bug schiebt den Schaum vor sich her.« Offenbar ist die »Zarin Katharina« also noch auf hoher See und eilt mit vollen Segeln auf Varna zu. Soeben ist Lord Godalming angekommen. Er hatte vier Telegramme erhalten, an jedem Tag, den wir unterwegs waren, eines. Alle hatten denselben Inhalt: Die »Zarin Katharina« war dem Londoner Lloyd bisher noch von nirgendwo gemeldet worden. Lord Godalming hatte vor unserer Abreise nämlich einen Agenten beauftragt, ihm jeden Tag ein Telegramm über das Vorankommen des Schiffes zu senden. Er hatte sogar eine Mitteilung verlangt für
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