Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
ich vertraue dir, was die Seherin angeht, wie du weißt …«
Sie brach ab, überrascht über die Heftigkeit seiner Reaktion. »Wir werden dieser alten Hexe und ihren Lügen aus dein Weg gehen, Amee! Es wäre ein unnützer Aufenthalt. Wir können bis zum Abend in Urgor sein!«
Sie erreichten das Ufer und ritten auf die Furt zu. Die Strömung war stark, das Wasser noch immer ein wenig hoch für diese Jahreszeit.
Amee sagte erneut: »Laß uns wenigstens hier eine Weile Rast machen, Liebster. Laß mich eine Stunde im Schatten liegen und schlafen. Ich …«
»Nein, Amee. Ich werde hier keine Zeit vergeuden! Wenn du heute nacht in deinen Gemächern schlafen kannst, wirst du mir dankbar sein.«
Nun erwachte der Widerstand in ihr. Es gefiel ihr nicht, wie er mit ihr sprach. Sie hob verärgert die Stimme.
»Dann reite voraus, wenn du es so eilig hast. Ich werde in Marathas Hütte den Luxus ein paar freundlicher Worte und anderer Annehmlichkeiten suchen, deren wir Frauen dann und wann bedürfen …«
»Wenn du ein Bad nehmen willst, dann steig in den Raxos. Jedes meiner Worte ist freundlicher als alles, was dieses Weib sagt. Der wirkliche Luxus ist, daß du lebst.
Ich habe dich gerettet, Amee. Danke es mir, indem du tust, was ich sage.«
Er nahm den Zügel ihres Pferdes und ritt in die Furt. Die erschöpften Pferde stolperten über den kiesigen Grund. Die kühlen Hüten schienen sie ein wenig zu erfrischen. Sie versuchten zu trinken, aber er trieb sie vorwärts.
Amees Ärger gewann so sehr die Oberhand, daß sie vom Pferd steigen wollte, kaum daß sie das andere Ufer erreicht hatten. Aber bevor sie aus dem Sattel gleiten konnte, drängte er sein Pferd zu ihr und packte sie hart an den Armen.
Sie erschrak zutiefst, denn sein Griff war kalt – durchdringend kalt. Und seine Augen waren dunkel – ohne eine Spur von Blau. Sie saß wie gelähmt, und er ließ sie nach einem Augenblick los, ergriff wieder die Zügel und zog sie die Uferböschung hinauf.
»Halt!«
Ein Halbkreis von Männern verwehrte ihnen den Weg. Ein stämmiger Hirte schwang die lederne Schleuder über seinem Kopf.
Dragon zerrte am Zügel; sein Pferd bäumte sich auf, schlug mit den Vorderfüßen und wieherte schmerzlich.
Amees Tier setzte sich auf die Hinterläufe und schlitterte einige Schritte nach vorn, ehe die Vorderhufe Grund faßten und Amee beinahe aus dem Sattel geschleudert wurde. Noch ehe sie begriffen hatte, wer sie aufhielt, sah sie Maratha.
»Die Seherin!« entfuhr es ihr.
»Ja!« sagte Dragon mit einem Fluch.
Es waren zwanzig oder mehr Hirten, die sich auf einer kleinen Erhebung aufgebaut hatten. Sie trugen Schleudern, Bogen und Pfeile, lange Weidestäbe mit eisernen Spitzen. Sie waren in Felle von verschiedenen Tieren gehüllt. Ihre Gesichter waren von langen, wilden Bärten umrahmt, ihr Haar hing weit in den Nacken oder war zu breiten Zöpfen geflochten.
In der Mitte dieses bedrohlichen Halbkreises stand Maratha. Amee erkannte sie sofort, obwohl die Seherin nicht als junges Mädchen oder als junge Frau erschien, sondern als reife, gealterte Frau von erhabener Würde. Ihr strenges Gesicht wandte sich ihnen zu.
»Hier ist dein Plan zu Ende, Cnossos!« sagte sie.
Zwei der Hirten schwangen noch immer ihre Schleudern. Andere hielten gespannte Bogen auf den Reiter gerichtet.
Cnossos! durchzuckte es Amee. Es war, als fließe plötzlich Eis durch ihre Adern, und sie mußte sich am Sattelhorn festhalten. Sie begriff ihre instinktive Furcht, die veränderte Stimme, die Augen, sein liebloses Verhalten! Sie war mit einem Dämon aus der Finsternis geritten, der die Gestalt ihres Geliebten angenommen hatte. Und Dragon? War ihr Liebster tot wie die anderen?
Der falsche Dragon ließ sein Pferd auf der Stelle tänzeln und sah sich hastig um. Es gab nur einen Fluchtweg: zurück in den Fluß.
»Was redest du da, Weib?« rief er wütend.
»Für mich bist du leicht zu durchschauen, Cnossos!« entgegnete Maratha. Sie wandte sich der Reiterin zu. »Hab keine Angst, Prinzessin! Alle deine Freunde sind wohlauf und auf der Suche nach dir.«
Betäubt von Schmerz und Furcht und Zweifel und Erleichterung, lauschte Amee.
»Dragon ist mein Schützling. Ich prophezeie dir, an ihm wirst du scheitern!« fuhr Maratha an Cnossos gewandt fort. »Und du wirst auch die Prinzessin nicht entführen, solange ich und meine Hirten das verhindern können!«
Drei oder vier Hirten näherten sich mit stoßbereiten Speeren Amee. Die Hirten rissen das Pferd mit sich,
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