Dragon Sin: Roman (German Edition)
überflogen hatten, wurde in dieser Jahreszeit viel genutzt, und Rhona hatte keine Lust, einen Menschen zu töten, nur weil er plötzlich unter Drachen geraten war und die Notwendigkeit verspürte, seine Nachbarn zu warnen.
»Was kann ich für dich tun, alter Freund?«, fragte Rhona.
Ren lächelte sie an. »Nichts. Es geht mir gut.«
»So siehst du aber nicht aus. Du wirkst eher, als hättest du mit meinen Vettern getrunken.«
»Gute Götter, so schlimm gleich?« Er grinste, und Rhona fühlte sich gleich besser. »Es geht mir gut«, beharrte er. »Wirklich. Mir fehlt nichts. Ich bin bloß erschöpft. Sobald ich die Kinder in die Ostländer gebracht habe, werden mich die Kraft meines Vaters und die Macht meines Elternhauses wieder aufrichten. Das verspreche ich.«
»Brauchst du irgendetwas?«
»Ist noch etwas zu essen da?«
Sie sahen sich an. »Dieser Barbar hat alles gegessen, was wir mitgebracht haben. Er saugt alle Nahrung um sich herum auf und kümmert sich um niemanden sonst.«
Ren kicherte. »Es könnte schlimmer sein. Er könnte zum Beispiel eine Plaudertasche sein.«
»Allerdings. Du weißt, wie sehr ich Plaudertaschen hasse.« Rhona stand auf. »Ich werde versuchen, etwas für dich aufzutreiben. Ich werde es sogar für dich braten.«
»Das wäre großartig. Vielen Dank.«
»Für dich tue ich alles, Ren von den Auserwählten.«
»Wirklich? Und warum?«
»Weil es dir gelingt, Keita im Zaum zu halten und für ihre Sicherheit zu sorgen. Allein dafür steht der ganze Clan tief in deiner Schuld.«
Rhona hob den Kopf und sog prüfend die Luft ein. »Wild«, sagte sie und lief los.
Vigholf packte das Reh bei der Kehle und schleuderte es gegen einen Baumstamm. Das Genick brach, und er warf das tote Tier zu Boden. Sein Magen knurrte. Er griff nach dem Tier, wollte es aufreißen und die noch warmen Innereien genießen.
Aber noch bevor seine Finger das geschmeidige Fell des Rehs berühren konnten, versengte ein Flammenstoß seine menschlichen Finger.
»Götterverdammt! Was sollte das denn?«
»Du bist der selbstsüchtigste Drache, der mir je begegnet ist«, klagte Rhona ihn an. »Und das heißt schon etwas, wenn man sich meine Sippe ansieht.«
»Was habe ich denn getan?«
»Ren muss essen.«
»Und? Lass ihn doch essen.«
»Du hast das gesamte Trockenfleisch und Brot aufgegessen, das wir mitgenommen haben. Ohne auch nur zu fragen, ob sonst noch jemand Hunger hat.«
Vigholf zuckte mit den Schultern. »Ich habe Keita gefragt. Aber sie …«
»Keita? Du hast Keita gefragt? Keita, die keine Magie wirkt, um ihre Nichten und ihren Neffen zu schützen? Keita, die überhaupt niemanden schützt? Keita, die über nichts anderes als über diese verdammten Kleider redet, die sie sich holen will – nicht kaufen, sondern sich holen, wohlgemerkt –, sobald sie in den Dunklen Ebenen ist?«
Vigholf räusperte sich. »Also … nun ja.«
Rhona kniff die Augen zusammen und schob ihn von dem Kadaver weg. »Das hier bringe ich zu Ren. Du kannst deinem Liebling Keita etwas anderes fangen.«
»Dieses Tier war nicht für sie bestimmt. Es war für mich. Ich bin hungrig.«
»Schon wieder?« Rhona sah ihn mit offenem Mund an. »Wie kannst du schon wieder hungrig sein? Du hast doch den ganzen Tag nichts anderes getan, als zu essen. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich nie zuvor einen Drachen gesehen, der beim Fliegen isst.«
»Dann hast du einfach nicht genau genug hingeschaut.« Rhonas Augen wurden zu Schlitzen und Vigholf, der nicht in der Stimmung für einen Kampf war, hob abwehrend die Hände. »Da drüben im Tal sind noch weitere Rehe. Ich hol mir eines davon.«
»Gut.«
Rhona hockte sich neben den Kadaver und machte sich daran, ihn zu häuten.
Vigholf beobachtete sie eine Weile, dann fragte er: »Wie geht es dem Ostländer denn?«
»Er ist müde. Todmüde.«
»Du machst dir Sorgen um ihn.«
»Jawohl.«
»Ihr beide scheint … euch nahezustehen.«
Rhona riss das Fell mit bloßen Händen ab. »Ja, ich vermute, das stimmt.«
»Wie nahe?«
Sie warf das Fell beiseite und schaute auf zu Vigholf. »Was?«
»Wie nahe stehst du diesem Mann, den deine Schwestern den schönen Ausländer nennen?«
»Warum fragst du?«
»Warum willst du es mir nicht sagen?«
»Vielleicht, weil es dich nichts angeht?«
»Und warum sollte es mich nichts angehen? Was verbirgst du vor mir?«
Rhona stand auf und rieb sich das Blut des Rehs von den Händen. »Ich verberge gar nichts vor dir, aber mein Leben geht nur mich etwas
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