Drahtzieher - Knobels siebter Fall
und außerdem glaube ich, dass Herr Drauschner mir seine Nummer auch nicht gegeben hätte. Es ist doch offensichtlich, dass ich von ihm und auch von seinen merkwürdigen Gästen nichts wissen sollte.«
»Wie sah er aus?«, fragte Marie.
»Ich schätze ihn auf Mitte 50, schlank, sehr groß, vielleicht 1,90 Meter, glatt rasiert, kurz geschorenes Kopfhaar«, sagte Sadowski. »Und eine Nickelbrille«, ergänzte er. »Er machte insgesamt einen verschlossenen, vielleicht auch einen etwas intellektuellen Eindruck.«
»Sie haben wohl nie wieder etwas von ihm gehört«, vermutete Stephan.
»Nein, nie wieder«, bestätigte Sadowski. »Ich habe weisungsgemäß das Taxi geholt. Das dauerte etwas, weil es erst aus Walsrode kommen musste. Drauschner musste ungefähr eine Viertelstunde warten. Während dieser Zeit lief er eigenartig unruhig auf dem Flur hin und her. Er hatte bereits seinen Wintermantel angezogen und blickte immer wieder nervös auf seine Armbanduhr. Darüber hatte ich mich schon damals gewundert, denn auf die Zeit konnte es ihm eigentlich nicht ankommen. Wenn seine Gäste gekommen wären, hätte er sich ja ohnehin bis spät abends in der Villa aufgehalten. Ihm muss mein verwunderter Blick aufgefallen sein, denn er erklärte sich und meinte, er müsse jetzt alles umplanen und schnell hier weg. Selbstverständlich habe ich nicht nachgefragt. Ich wusste ja, dass ich nichts zu fragen hatte. Irgendwann kam dann das Taxi. Er hörte durch die geschlossene Eingangstür, dass ein Wagen die Rampe hochfuhr und vor dem Haus hielt. Er blickte noch einmal in Richtung Küche zurück, wo ich mit meiner Mitarbeiterin in der Tür stand, hob zum Abschied seine Hand und winkte kurz. Seine Brillengläser blitzten im Licht der Kandelaber. Dann huschte er aus der Tür, und wir hörten das Taxi wegfahren. Das waren unsere Erlebnisse am Abend des 16. Dezember. Wir nennen das unser Dinner for one, aber er hat ja nicht einmal selbst etwas gegessen. Wenn man so will, war es eine sehr eigenartige, aber hochprofitable Veranstaltung.«
Sascha Sadowski schmeckte sichtlich die Atmosphäre dieses Abends nach.
»Kommen Sie«, bat er, »wir gehen in die Küche. Ich serviere Ihnen gern einen Kaffee oder Cappuccino.«
Stephan ließ seine Blicke noch einmal durch das geräumige Wohn- und Kaminzimmer schweifen. Er malte sich aus, wie Friedemann Drauschner allein an einem runden Tisch inmitten dieses Raumes, der eher ein Salon war, gesessen hatte.
Die Küche der Villa Wolff war überraschend klein. Sascha Sadowski erklärte, dass sie noch dieselbe Größe habe wie zu der Zeit, als die Unternehmerfamilie Wolff in diesem Anwesen wohnte. Er plane Veränderungen, um dem Bedarf Rechnung zu tragen, wenn große Gesellschaften zu bewirten seien. Der Kaffee lief glucksend aus der Maschine. Sadowski schäumte Milch auf, verteilte sie kunstvoll auf beide Tassen und stellte eine kleine silberne Schale mit frischen Pralinen auf den Tisch.
»Sie sind nicht die Ersten, die sich nach dem Verlauf des 16. Dezember in der Villa erkundigen«, sagte Sadowski und setzte sich. »Ein Herr Wanninger war schon vor Ihnen da. Es ist vielleicht zwei Wochen her. Er stellte dieselben Fragen wie Sie und bat mich um Informationen, wenn ich noch etwas in dieser Sache höre. Also habe ich ihn gestern Abend angerufen, nachdem Sie sich für heute angekündigt haben. Vielleicht setzen Sie sich selbst mit ihm in Verbindung.«
Sascha Sadowski lehnte sich zurück, wandte sich im Sitzen um und nahm eine Visitenkarte vom Küchenschrank. ›Gisbert Wanninger‹ stand darauf, darunter ›Journalist‹. Es folgten Dortmunder Telefon- und Faxnummer und eine E-Mail-Adresse.
6
Obwohl Gisbert Wanninger in Dortmund wohnte und arbeitete, schlug er ein Treffen am Nordufer des Kemnader Sees im Bochumer Süden vor. Der See lag an der Grenze zu Witten, idyllisch unterhalb des bewaldeten Höhenzugs gelegen, auf dem die schlichten Zweckbauten der Ruhr-Universität thronten, mitten im Ruhrtal, das an dieser Stelle einen malerischen Blick auf den auf einer Anhöhe liegenden Ort Blankenstein mit seinen Fachwerkhäusern und der Burgruine gestattete und mit diesem fast touristisch anmutenden Ambiente keine Nähe zu großstädtischen Kulissen vermuten ließ. Wanninger gab den kommenden Sonntag, 13. Mai, um 15 Uhr vor und bestimmte als Treffpunkt das untere Ende der großen Parkplatzflächen, wo der Rundweg um den See seinen Ausgang nahm, und beschrieb sich: stattliche Figur, 1,70 Meter groß, gebräuntes
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