Drahtzieher - Knobels siebter Fall
Gesicht, Glatze. Es sei gutes Wetter angesagt, er werde einen weißen Anzug tragen und sei deshalb nicht zu verfehlen.
Marie und Stephan erkundigten sich im Vorfeld des Treffens über Gisbert Wanninger, dessen Name ihnen bekannt vorkam, ohne dass sie ihn näher zuordnen konnten. Bei der Recherche stießen sie im Internet auf eine Vielzahl von Eintragungen zu Geschichten und Skandalen, die Gisbert Wanninger an die Öffentlichkeit gezerrt und über die Medien verbreitet hatte. Er arbeitete seit vielen Jahren als freier Journalist, nachdem er seine feste Beschäftigung bei einer Tageszeitung aufgegeben und diese Trennung in der auf seiner Homepage veröffentlichten Vita damit begründet hatte, dass er nach noch mehr Unabhängigkeit strebe und sein einziger Arbeitgeber die Öffentlichkeit sein könne, der er sich verpflichtet fühle und in deren Dienst er unabhängig recherchiere. Wanningers Name tauchte in der Vergangenheit regelmäßig in den Schlagzeilen auf. Er galt als Inbegriff der Spürnase, die mit untrüglichem Sinn den Dingen auf den Grund ging und sich zu Recht seiner Unbestechlichkeit rühmte. Wanninger deckte rückhaltlos auf und war häufig zur rechten Zeit am rechten Ort, um jene Erkenntnisse zu gewinnen, die ihn hinter die Kulissen blicken und die richtigen Schlüsse ziehen ließen. Seine Recherchen waren rund, seine Behauptungen beweisbar und die Quellen verlässlich. Der Journalist hatte gutes Geld mit Reportagen verdient, die häufig seine Liebe zum Skandal verrieten, derentwillen Wanninger auch Menschen opfern konnte, wenn er sie als deren Urheber oder Auslöser ausgemacht und überführt hatte. Wen Wanninger auf diese Weise öffentlich genüsslich vorführte, schien dies nach verbreiteter Ansicht auch verdient zu haben. Er stellte seine Opfer an einen Pranger, dessen Wirkung weit über das hinausgehen konnte, was die Justiz oder andere Institutionen zu leisten vermochten, die im Rahmen ihrer Aufgaben den Geschichten nachgingen, die Wanninger wortgewaltig und farbig über die Medien verbreitete. Gisbert Wanninger galt lange als des Volkes Seele und des Volkes Mund.
In den letzten Jahren war es stiller um ihn geworden. Die Entwicklung der Kommunikationstechnik, die weite Verbreitung von Internet und Handys in der Bevölkerung machten jeden Einzelnen in der Gesellschaft zum Nachrichtensender, der schnell ohne Mühen Botschaften verbreiten konnte. Die Gesellschaft war transparenter geworden. Sie verlor zunehmend jene Nischen, in der sich Schnüffler wie Gisbert Wanninger vorarbeiten und Vertuschtes entdecken konnten. Aber er war noch immer am Puls der Zeit, verfolgte Entwicklungen und nutzte seine Chance, wenn sich publikumswirksame Ereignisse ankündigten und er die Gelegenheit hatte zuzugreifen, bevor sich die Neuigkeiten über andere Kanäle verteilten und bekannt wurden.
Gisbert Wanninger stand am vereinbarten Platz. Im weißen Anzug wirkte er mit seiner behäbigen Statur wie ein Fels in der wogenden Menschenmenge, die im Sonnenschein dieses fast sommerlichen Tages von den Parkplatzflächen auf die Spazierwege drängte, immer wieder aufgetrieben von Radfahrern, die sich klingelnd und kreuzend ihre Gasse bahnten. Stephan sprach Wanninger an, und er antwortete mit einem abschätzenden Blick, mit dem er erst ihn und dann Marie musterte.
»Kommen Sie«, sagte er, »wir gehen ein wenig spazieren. Weiter oben befinden sich einige Bänke. Wir können uns dann hoffentlich in Ruhe unterhalten, wenn wir einen Platz finden.«
Wanninger ging voran, Marie und Stephan folgten, sich an der Hand haltend und im Stillen etwas belustigt über den Mann, der sich eigentümlich flink bewegte und hierbei schnell zu schnaufen begann, in gewisser Weise wie ein Tourist auf einer anspruchsvollen Expedition wirkte und sich mit seiner auffallenden Kleidung skurril von den zahllosen Spaziergängern abhob, die sich gelassen durch den Sonntag treiben ließen. Tatsächlich fanden sie eine Bank, die ein älteres Ehepaar eben verlassen hatte. Gisbert Wanninger nahm seitlich darauf Platz, schlug die Beine übereinander, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und betupfte seine vom Schweiß feuchte gebräunte Stirn.
»Warum hier?«, fragte Marie demonstriert lässig und offenbarte mit ihrem Tonfall ihre Belustigung über Wanningers Gebaren, das zum guten Teil eine Mischung aus Geheimnis- und Wichtigtuerei war und deshalb albern wirkte.
»Es ist ein unauffälliger Platz«, antwortete Wanninger mit bedeutender Miene, »es
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